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Esch gibt kein Aleschia!

Über die deutsche Vergangenheit, deutsche Straßen, falsche Erinnerung und die Kraft der Umbenennung

War da was? Dieser Brunnen in Heilbronn heißt »Komödiantenbrunnen«.
War da was? Dieser Brunnen in Heilbronn heißt »Komödiantenbrunnen«.

Hier, in Deutschland, hat man für das rasche Verschieben der während der NS-Zeit begangenen Verbrechen ins Gedächtnisloch das schöne und bis heute erfolgreich verwendete Wort »Vergangenheitsbewältigung« erfunden. Die damit gemeinte nicht ganz unkomplizierte Technik besteht darin, sich nicht erinnern zu wollen und gleichzeitig offiziell die Pflicht zum Erinnern anmahnen zu müssen, die Erinnerung auslöschen zu wollen und gleichzeitig offiziell so lange erstarrte Gedenkrituale mit den immergleichen leeren Gedenkfloskeln zu veranstalten, bis auch der letzte tatsächlich Erinnerungswillige klein beigibt und wie in »Asterix und der Arvernerschild« ausruft: »Esch gibt kein Aleschia! Wir wischen nicht, wo dieschesch Aleschia liegt.«

Auch mit der Maßnahme, Dingen und Ereignissen einen neuen Namen zu geben, wenn sie sich in der Vergangenheit als irgendwie unvorteilhaft erwiesen haben oder einen schlechten Ruf genossen, hatte man es hierzulande stets sehr eilig. Deswegen heißt die Ära des Nationalsozialismus heute wahlweise »das dunkle Kapitel«, »die schweren Jahre« oder »das Zeitalter des Totalitarismus« (das nebenbei den Vorteil hat, dass die DDR, mitgegründet von überlebenden Opfern des deutschen Faschismus, mit dem deutschen Faschismus gleichgesetzt werden kann).

Bis heute ist das eine überaus bewährte Praxis: Müll heißt heute »Wertstoff«, der deutsche Polizeichef wird als »Heimatminister« bezeichnet und den Kapitalismus hat man in »freier Markt« umbenannt. Hat sich die Barbarei schon als unschön für viele erwiesen, soll wenigstens ihr Name einen freundlichen Klang haben. Es ist nun mal »der Klang, der berührt«, wie schon der bekannte Klavierhersteller Bösendorfer wusste (Werbeslogan des Unternehmens, 2009).

Früher, als es der Holocaust war, der sozusagen von einem Tag auf den anderen einen schlechten Ruf genoss beziehungsweise von dem man den Eindruck hatte, dass er sich als irgendwie unvorteilhaft erwiesen hatte, was einigen Deutschen bereits im Mai 1945 auffiel, waren es die Straßen, denen man einen neuen Namen gab. Einen »Adolf-Hitler-Platz« wollten jetzt, »nach dem Krieg« (wie die ersten Jahre nach der Befreiung vom Faschismus bezeichnet wurden), plötzlich manche aus unerfindlichen Gründen nicht mehr in ihrer Gemeinde haben, schon gar nicht im Zentrum, wo die alte Eiche, die Dorfgaststätte und das pittoreske Kirchlein ihren angestammten Ort haben. Selbst die im Gemeinderat einst eifrigsten Befürworter der Forderung, dass dem so populären und schneidigen nationalsozialistischen Volkskanzler der alte Dorfplatz gewidmet werden solle, sprachen sich im Mai 1945 überraschend für eine unverzügliche Umbenennung aus. Was daran gelegen haben könnte, dass der geschätzte Führer »nach dem Krieg« – soll heißen: als die Deutschen sich als Opfer fühlten (was sie seither gerne tun) – seinen Nimbus kurzzeitig eingebüßt hatte.

An meinem Geburtsort, dem verschlafenen baden-württembergischen Städtchen Heilbronn am Neckar, bekannt durch seine Weinberge, sein schmuckes Rathaus mit der astronomischen Uhr und seine stockreaktionäre Bevölkerung, hat die Neigung, möglichst schnurstracks und spurlos alles loszuwerden, was an die »Hitlerzeit« erinnern könnte, sich in ganz besonderer Weise in der Umbenennung von Straßen niedergeschlagen: Dass man mit einem Mal nicht mehr wollte, dass die größte und repräsentativste Straße, die »Adolf-Hitler-Allee«, die mitten durchs Stadtzentrum führt, den Namen des, sagen wir, umstrittenen Politikers trägt, scheint verständlich. Man behalf sich, indem man den mit allerlei Ungutem (über das man jedoch nichts weiter wissen wollte) belasteten Namen einfach wegließ: »Allee«. Konnte man sich das jetzt nicht auch viel besser merken als den komplizierten Namen von davor? Einfach »Allee«. War das nicht schlichter, knapper, minimalistischer? Auch, hmm, gewissermaßen moderner, zeitgemäßer, durch das komplette Weglassen eines Namens sozusagen zukunftssicherer?

Immerhin gab es in nahezu sämtlichen deutschen Städten zu jener Zeit dasselbe Namensänderungsbedürfnis: Der Mann, dieser Hitler, hatte schließlich erst vollmundig den Sieg gegen die Amis und Russen, die Weltherrschaft Deutschlands und die Ausrottung der Juden versprochen und, zur großen Enttäuschung der Bevölkerungsmehrheit, am Ende keines dieser Versprechen einhalten können. Jetzt wollte man es dem frechen Schlingel, der schlagartig nicht mehr der geliebte Führer, sondern nur noch der nichtswürdige »österreichische Gefreite« war, heimzahlen, indem man überall geschwind nicht nur seinen Namen, sondern auch die seiner Helfer und Helfershelfer tilgte.

In Heilbronn trieb die ab Mai 1945 einsetzende rege Umbenennungstätigkeit ein paar seltsame Blüten: Die »Hegelstraße« sollte fortan »Schlegelstraße« heißen, beschloss man; wohl, weil man im Übereifer den einen Philosophen offenbar für einen Krypto- beziehungsweise Prä-Nazi hielt, während man den Namen eines romantischen, katholischen Schwärmers und Streiters für die Emanzipation der Frauen und der Juden für angemessen hielt. (Und man musste das Straßenschild nur um drei Buchstaben ergänzen.) Doch das Einschleimen bei den verhassten Alliierten war damit durchaus noch nicht an sein Ende gelangt: Aus der »Hermann-Göring-Straße« und der »Horst-Wessel-Straße« wurden über Nacht – Abrakadabra, simsalabim! – die »Marxstraße« und die »Heinrich-Heine-Straße«. Bezeichnend ist hierbei, dass man anscheinend nach einem recht dreisten Muster vorging (»Schau mal auf der Liste der verbrannten Dichter. Oder ein Kommunist. Wir brauchen zwei Namen«): Das eigene Gutsein beziehungsweise präpotente Wiedergutwerdenwollen wollte man den neuen Machthabern durch einen penetranten überstürzten vorauseilenden Gehorsam beweisen. Man war unschuldig, man war kein Nazi, man hatte noch nie etwas gegen Juden, Kommunisten, Spötter, Satiriker, Miesmacher oder Siebengescheite, sollte das heißen. Schneller, als jemand »Holocaust« sagen konnte, war man geläutert, oder man hatte gar kein schlechtes Gewissen. Man bemühte sich jedenfalls, nicht mehr automatisch strammzustehen und die Hacken zusammenzuschlagen, wie das der servile Angestellte Schlemmer, eine Karikatur des deutschen Nazis und autoritären Charakters, in Billy Wilders Filmkomödie »Eins, zwei, drei« tat.

Ausgerechnet zwei der unterm Führer am meisten verhassten radikal linken deutschen Intellektuellen, beide aus jüdischen Familien stammend, sollten nun die neuen Namensgeber für jene zwei Heilbronner Straßen werden, mit denen zuvor noch hochrangige Nazis gewürdigt worden waren. Offenbar erhoffte man sich, mit einem solchen im Nachhinein per Ruckzuckverfahren vorgenommenen und obszönen Selbstreinigungsversuch die Verbrechen, an denen man beteiligt war, sozusagen in Raketengeschwindigkeit vergessen zu machen. Beide Straßen heißen heute noch so. Auch die »Allee« trägt tapfer weiter ihren unverbindlichen und bei Bedarf jederzeit zu ergänzenden Namen. Doch von den Passanten in der Heilbronner Fußgängerzone wird Ihnen heute wohl kaum jemand eine halbwegs vernünftige Auskunft darüber geben können, wer Heinrich Heine war.

Übrigens: Im Wikipedia-Eintrag zur oben erwähnten Klaviermanufaktur Bösendorfer (Wien) fällt auf, dass im Kapitel zur Unternehmensgeschichte eine Lücke klafft, die erstaunlicherweise ausgerechnet die Jahre zwischen 1932 (»die Söhne traten in das Unternehmen ein«) und 1944 (»Bombenangriff«) umfasst. Aber das nur am Rande. Zwinker, zwinker.

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