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Russland beginnt Charkiw-Offensive

Moskau meldet die Einnahme mehrerer Ortschaften in der Ostukraine

  • Daniel Säwert
  • Lesedauer: 4 Min.
In Belgorod stürzte am Sonntag ein Hochhaus ein. Moskau spricht von einer ukrainischen Rakete, Kiew von einer vorsätzlichen Tat des Kreml.
In Belgorod stürzte am Sonntag ein Hochhaus ein. Moskau spricht von einer ukrainischen Rakete, Kiew von einer vorsätzlichen Tat des Kreml.

Eine Überraschung war der Angriff nicht. Seit Monaten diskutierten Journalisten und Analysten über ein mögliches bevorstehendes Vordringen der russischen Armee auf die zweitgrößte ukrainische Stadt Charkiw, gelegen im Osten des Landes nahe der russischen Grenze. Seit Monaten hat die russische Armee Charkiw immer wieder bombardiert und ihre Angriffe zuletzt intensiviert.

Am Freitagmorgen begann die lang erwartete Offensive, wie zunächst ukrainische und russische Quellen vermeldeten und das Verteidigungsministerium in Moskau später bestätigte. Russische Truppen hätten fünf ukrainische Grenzdörfer besetzt, teilte das Ministerium am Samstag in Moskau mit. Genannt wurden Striletsche, Krasne, Pylne und Boryssiwka, die etwa 30 Kilometer nördlich von Charkiw in der Nähe des Ortes Lipzy liegen, sowie Ohirzewe bei der Stadt Wowtschansk. Die Bewohner der Orte wurden nach russischen Angaben evakuiert. Auch die Ukraine gab die Evakuierung von 4000 Menschen aus dem betroffenen Gebiet bekannt. Am Sonntag vermeldete Moskau die Einnahme weiterer vier Ortschaften – Hatyschtsche, Krasne, Morochowez ind Olijnykowe. Insgesamt habe Russland in zwei Tagen 88 Quadratkilometer eingenommen, schreiben die ukrainischen Kriegsanalysten von Deep State, weitere 73 Quadratkilometer seien »graue Zone«, die von niemandem kontrolliert wird.

Unübersichtliche Lage

Die Lage in der Region ist unübersichtlich, Angaben beider Seiten kaum zu überprüfen. Am Freitag hatte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj noch erklärt, der Vorstoß sei nicht erfolgreich gewesen. Auch aus der Armee hieß es, dass alle Stellungen gehalten würden. Am Sonntag meldete die Nationale Polizei, dass sich die Situation in der strategisch wichtigen Stadt Wowtschansk verschlechtert habe. Der Ort sei fast vollkommen zerstört, hieß es. Ukrainischen Angaben zufolge kam es am Sonntag zu Kämpfen in der Stadt. Die Region sei nicht ausreichend gegen einen russischen Angriff gesichert, beschwerte sich ein ukrainischer Soldat auf Facebook. Die ukrainische Armee hatte in den vergangenen Monaten um Charkiw und entlang der russischen Grenze ein System aus Schützengräben und Panzersperren errichtet.

Ein Vormarsch auf die 1,5-Millionen-Einwohner-Stadt bringt die russische Armee in eine gute taktische Ausgangslage, gerät sie dadurch in die Reichweite der eigenen Artillerie. Die russische Armee könne damit ein erhebliches Bedrohungsszenario schaffen. Einnehmen wolle oder könne sie die Stadt aber nicht, schreibt der US-amerikanische Thinktank Institute for the Study of War (ISW) in seinem täglichen Lagebericht.

Charkiw soll nicht eingenommen werden

Bereits im März sprach Russlands Präsident Wladimir Putin davon, im Grenzland einen Cordon sanitaire einrichten zu wollen, um den ukrainischen Beschuss der Regionalhauptstadt Belgorod zu unterbinden. Laut ISW hat die jetzige Offensive mehr strategischen Effekt als ein operatives Ziel. Dafür spricht auch die Zahl der Soldaten. 40 000 soll Russland in der Region zusammengezogen haben, wovon lediglich ein Viertel bisher an der Offensive beteiligt ist.

Russland, so die einhellige Meinung von Analysten, will die Ukraine mit dem aktuellen Vorstoß dazu zwingen, Soldaten und Technik von anderen kritischen Punkten entlang der Front abzuziehen. Eine ähnliche Strategie hatte die russische Armee bereits im Donbass erfolgreich umgesetzt und der ukrainischen Armee, der es an Material und Soldaten mangelt, erheblich unter Druck gesetzt. »Wenn die Ukrainer sich dazu entschließen, ihre Positionen um jeden Preis zu halten, verlieren sie den Großteil ihrer immer kleiner werdenden Armee«, prognostizierte Mick Ryan, ehemaliger General der australischen Armee, in der »New York Times« die möglichen Folgen des russischen Vorstoßes.

Wohnhaus in Belgorod eingestürzt

Trotz der russischen Offensive hat auch die ukrainische Armee ihre Angriffe auf die grenznahe russische Großstadt Belgorod fortgesetzt. Nach Angaben des Gouverneurs der Region, Wjatscheslaw Gladkow, wurden am Sonnabend 300 Wohnungen durch ukrainischen Beschuss in Mitleidenschaft gezogen. Am Sonntagmorgen stürzte ein Teil eines zehngeschossigen Wohnhauses im Süden der Gebietshauptstadt ein, wobei nach vorläufigen Angaben mindestens 15 Menschen ums Leben kamen. Das russische Verteidigungsministerium machte die Ukraine dafür verantwortlich. Das Wohnhaus sei durch Trümmer einer abgeschossenen Totschka-U-Rakete getroffen worden, hieß es in Moskau.

Kiew wies die Anschuldigungen zurück und behauptete seinerseits, Russland habe das Gebäude gesprengt, um ein härteres Vorgehen gegen die Ukraine zu rechtfertigen. Auf Aufnahmen seien keine herabstürzenden Objekte zu sehen. Es wirke vielmehr nach einer »Provokation Russlands«, sagte der Leiter des Anti-Desinformationszentrums des Nationalen Sicherheitsrates Andrij Kowalenko. Unabhängige Militäranalysten bezeichnen hingegen die Version des Moskauer Verteidigungsministeriums als durchaus glaubhaft. Der Sprengkopf einer Totschka-U könne durchaus solche Schäden verursachen, meinen Kirill Michailow und Jan Matwejew.

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