Sprechen durch Gräber und Gräben

Dank dem Leipziger Verlag Spector Books kann man den Dramatiker Lothar Trolle neu entdecken

  • Vincent Sauer
  • Lesedauer: 4 Min.
Lothar Trolle tut nur so entspannt, denn er will kein Fantasyland für Bildungsbürger.
Lothar Trolle tut nur so entspannt, denn er will kein Fantasyland für Bildungsbürger.

Einen »Spielverderber der Macht« nannte ihn Robert Mießner in der »Taz«. Dieser Schriftsteller sei ein »Fallensteller« formulierte Hans Dieter Schütt in dieser Zeitung anlässlich seines 80. Geburtstags im vergangenen Januar: Lothar Trolle gehört zu den radikalsten Dramatikern der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, blieb aber, weil er mit keinem System konform gehen kann, zu viel Wirklichkeit zulässt in seinen Texten, die unerhört bleiben soll.

In Brücken bei Sangerhausen kam er auf die Welt, im Südharz. Der Vater war Jude und Kommunist. In seine Parallelklasse ging Einar Schleef, der als Theatermacher, gleichfalls oft als »Berserker« bezeichnet, deutlich erfolgreicher werden sollte; vielleicht, weil man in sein Werk mehr martialisches Kraft-Kunst-Deutschland reinlesen konnte. Trolle jedenfalls absolvierte zunächst eine Ausbildung zum Handelskaufmann, wurde Bühnentechniker am Deutschen Theater Berlin. Ein Philosophie-Studium beim allseits beliebten Hegel- und Hölderlin-Experten Wolfgang Heise brach er – wohl besten Gewissens – ab. Mit Bernd Wagner und Uwe Kolbe gab er die Untergrundzeitschrift »mikado« heraus. 1988 verließ er die DDR – womöglich, weil er ein Dichter ist, der zu proletarisch und gleichfalls künstlerisch ernsthaft vorgeht.

Sein größter Bühnenerfolg war das Stück »Hermes in der Stadt«, inszeniert 1992 von Frank Castorf am Berliner DT: Trolle verknüpft hier den Mythos des Händlerschutzgotts Hermes mit der brutalen Lebenswirklichkeit der Großstadt, also Mord, Totschlag, Niedertracht und – besonders unschön – Hoffnungslosigkeit in einer Welt, wo Ideologie und hehre Worte keine nachvollziehbare Rolle mehr spielen.

Der Leipziger Verlag Spector Books widmet Lothar Trolle nun eine mehrbändige Reihe in stilsicherer, pragmatischer Aufmachung, nämlich Karton und Leimheftung. Herausgegeben wird die Reihe vom Dramaturgen und Regisseur Jan Hein. Das erste Büchlein »Heimatland« erschien 2023; dieses Jahr wurde »Geschichtsunterricht« veröffentlicht. Abgerundet wird das Buch durch ein schönes anekdotisches Nachwort der Ost-Berliner Schriftstellerin Barbara Honigmann, das vor allem für Nachgeborene von Interesse ist.

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Der Band eröffnet mit der Geschichte einer grausamen Schlossherrin, gesprochen von einem Chor. Am umfangreichsten ist ein Text, der sich am genialischen bayerischen Schriftsteller-Sturkopf Oskar Maria Graf orientiert, der als Anarchist aus einem Bäckergeschlecht das 20. Jahrhundert aufmischte. »WIE ES MIR GEHT, UND WAS ICH EINMAL WERDEN MÖCHTE, DANACH FRAGT KEINER« heißt es kurz vor Schluss in dieser Bearbeitung von Grafs »Unruhe um einen Friedfertigen«. Manchmal führt uns der Autor aufs karge, arme Land nach den Verheerungen des Zweiten Weltkriegs. Auf wenigen Seiten behandelt Trolle eine »Episode aus dem Siebenjährigen Krieg«, ein anderer Text führt ins Alte Testament, zu Judith und Holofernes. Aber Trolle bemüht kein Sandalenheldentum, will keine kryptochristlichen Wünsche erfüllen, also moraltheologische Dialoge in einem Fantasyland für Bildungsbürger ablaufen lassen.

Trolle bedient keine Erwartungen an ausgetüftelte Seelen zur Identifikation oder Spannung verpflichtete Plots zur Feierabendunterhaltung: dichte Prosa-Blöcke, protokollierende Passagen, schroff Dokumentarisches, schnelle Perspektivwechsel, plötzliche Versalien, dann wieder Verse – die Formen und Formate lösen sich ab, gehen ineinander über. »Texte« werden die Texte schlicht genannt. Dabei geht es um keine Spielerei für Kunstsinnige, sondern Schreibverfahren, die ihre Dringlichkeit dadurch gewinnen, dass sie ihr Material – Geschichten aus dem Krieg, über krasse Armut, willkürliche Gewaltherrschaft – bis zur Kenntlichkeit entstellen. Darin besteht der »Geschichtsunterricht«. Wobei nicht der Eindruck entstehen soll, Trolles Texte seien völlig frei von Humor. Im »Märkischen Fragment 1945« heißt es etwa: »Ich will mein Rasierzeug wiederhaben, / sonst dauert’s keine drei Wochen / und ich seh aus wie Karl Marx«.

Diese Texte, Materialschlachten und Schlachtmaterial, bilden keine gemütliche Lektüre, sind aber äußerst ratsam für die Gemütsbildung, mithilfe dieser kleinen verdienstvollen Reihe die singuläre literarische Erscheinung Lothar Trolle kennenzulernen oder treu zu bleiben. Zusatztipp: Zur Zeit ist Trolles Hörspiel »Dshan«, nach Motiven der gleichnamigen Novelle von Andrej Platonow, in der ARD-Hörspieldatenbank abrufbar.

Lothar Trolle: Geschichtsunterricht. Herausgegeben von Jan Hein. Mit einem Nachnwort von Barbara Honigmann. Spector Books, 180 Seiten, br., 22 €.

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