Aktivisten der Letzten Generation wollen EU-Parlament aufmischen

Die Letzte Generation möchte ins EU-Parlament. Und setzt dabei auf ein Format, das das Ende der DDR begleitete

  • Anton Benz
  • Lesedauer: 5 Min.
Die Kandidatenvorstellung: Lina Johnson (Mitte links) und Carla Hinrichs (Mitte rechts) treten für die Letzte Generation zur Europawahl an.
Die Kandidatenvorstellung: Lina Johnson (Mitte links) und Carla Hinrichs (Mitte rechts) treten für die Letzte Generation zur Europawahl an.

Es ist der Tag nach der Anklage wegen der Bildung einer kriminellen Vereinigung gegen fünf Mitglieder der Letzten Generation. Unterstützer der Gruppe haben sich für eine Kundgebung auf dem Washingtonplatz in Berlin eingefunden. Das Urteil sei ein Angriff auf das demokratische Recht auf Protest, so der Tenor der Sprechenden. Zu Ihnen gehört auch Carla Hinrichs, eine der Pressesprecher*innen der Organisation. Hinrichs selbst wurde von der Staatsanwaltschaft Neuruppin nicht angeklagt, doch in München wird wegen desselben Tatverdachts auch gegen sie ermittelt. Im Mai letzten Jahres wurde deshalb ihre Wohnung durchsucht.

Derselbe Tag, nur ein wenig später. Hinrichs sitzt vor dem Gemeindehaus der evangelischen Brüdergemeinde Berlin. Es liegt an einer schmalen Kopfsteinpflastergasse in Neukölln. Aus dem Innern ertönt eine Cover-Version des Weihnachtshits »We wish you a merry Christmas«. Jede Woche trifft sich hier ein Bläserchor um zu proben, für Gottesdienste und Gemeindefeste.

Europawahl 2024

Im Juni wird in allen Mitgliedsländern der Europäischen Union über ein neues EU-Parlament abgestimmt. Dabei zeichnet sich ab, dass rechte Parteien an Einfluss gewinnen könnten. Was ist eine linke Antwort darauf? Und wie steht es um die Klimapolitik der EU? Welche Entwicklungen gibt es in Hinblick auf Sozialpolitik und was ist im Bereich der europäischen Asyl- und Migrationpolitik zu erwarten? Die anstehende Europawahl wird richtungsweisend. Auf unserer Themenseite fassen wir die Entwicklungen zusammen: dasnd.de/europawahl

In das Gemeindehaus eingeladen hat der »parlamentarische Arm« der Letzten Generation. Als sonstige politische Vereinigung möchte die Gruppe ins Europaparlament einziehen. Die bürokratischen Hürden sind genommen, die Spitzenkandidat*innen aufgestellt. Jetzt fehlt nur noch ein Wahlprogramm. Dieses möchten die Aktivist*innen nicht selbst bestimmen, stattdessen sollen sich Freiwillige an »Runden Tischen« in ganz Deutschland zusammenfinden und sich auf fünf Punkte einigen. 18 Abende sind dafür geplant, in Ulm genauso wie in Hamburg. Heute ist Berlin an der Reihe.

Anfang Juni soll es dann eine Art Gipfeltreffen geben, auf dem jeweils ein bis zwei Delegierte der ersten Runde ihre Punkte zusammentragen und das finale Wahlprogramm verabschieden. Das Verfahren erinnert an eine Miniaturversion der Gesellschaftsräte, deren Einführung die Letzte Generation fordert.

Doch warum möchte die Letzte Generation überhaupt ins Europaparlament und wie möchte sie es dort hineinschaffen? Das erklärt Hinrichs, die auf Listenplatz Drei antritt, dem »nd«, bevor es mit dem Abendprogramm losgeht. Sie sagt: »Wir werden zwar alle paar Jahre gefragt, ob wir ein Kreuz machen wollen, wir werden aber nicht nach unserer Meinung gefragt«. Genau das möchte die Letzte Generation mit ihren Runden Tischen anders machen. Auch das sieht Hinrichs als Form des Protests: einen anderen Weg zu gehen, als andere Parteien. Das Parlament möchte die Gruppe vor allem als Bühne für ihren Widerstand nutzen. Aber braucht es dafür überhaupt ein Wahlprogramm? »Wir sind nicht nur Alarm, wir sind auch Inhalt«, lautet Hinrichs Antwort. Die fünf Punkte, die auf den runden Tischen verabschiedet werden sollen, seien das, was die Gruppe mit ihrem Protest transportieren werde.

Sie isst noch eine Kleinigkeit, bevor sie den Veranstaltungsraum betritt. An einem Tag wie diesem bleibt nicht viel Zeit für Nebensächliches wie Essen. Neben Hinrichs und zwei Organisatoren haben zehn weitere Menschen ihren Weg dorthin gefunden. Darunter sind Klimaaktivisten, genauso wie ein unentschlossener Wähler und Rentner*innen. Ein Teilnehmer erzählt, dass er gekommen sei, weil er runde Tische aus seiner Vergangenheit kennt.

Es ist kein Zufall, dass die Letzte Generation ihre Veranstaltung so nennt wie das Format, welches die letzte Regierung der DDR begleitete. Am »zentralen Runden Tisch« trafen sich von Dezember 1989 bis März 1990 Vertreter der Regierung und anderer Parteien mit Abgesandten von Bürgerbewegungen und Kirchen, um über eine demokratische Umgestaltung der DDR zu sprechen. Was die Teilnehmenden des heutigen Abends erst später erfahren werden: Gerüchten zufolge sitzen sie auf denselben Stühlen wie ihre »Vorgänger« – die evangelische Brüdergemeinde hatte nämlich früher einen Kirchsaal im Dietrich-Bonhoeffer-Haus, wo der zentrale Runde Tisch beinahe wöchentlich tagte.

Moderator Aaron trägt Pilotenbrille, ein Shirt mit der Aufschrift »Smash the Cis-tem« und Regenbogengürtel. Er erläutert die Aufgabe des heutigen Treffens: Herauszufinden, wie die EU reagieren sollte, auf Klimakrise, Gerechtigkeitskrise und Demokratiekrise. Nach anfänglicher Ratlosigkeit und einer halben Stunde Brainstorming hängen 23 Forderungen an einer Tafel. Auf kleinen Zetteln heißt es »faire und humane Asylpolitik«, »EU-weites ÖPNV Ticket« oder »Flugverbot«. Bei der darauffolgenden Besprechung fällt den Teilnehmenden vor allem auf, wie viele Punkte noch fehlen.

Doch nun geht es darum, fünf Forderungen aufzustellen; daran muss Aaron in der zweiten Runde immer wieder erinnern. Es wird hektischer. Wo anfänglich noch eine lockere Stimmung herrschte, ist jetzt Anspannung zu verspüren. Welche Punkte sollen es unter die letzten fünf schaffen? Ein Teilnehmer tut sich besonders hervor. Er spricht lauter als der Rest und beendet Sätze gerne mit »Verdammt nochmal!« oder »Ich hab die Nase voll!«

Europa to go

Ein Podcast, der dich anlässlich der Europawahl 2024 ins »Herz« der EU mitnimmt. Begleite uns nach Brüssel und erfahre mehr über Institutionen wie das Europäische Parlament, was dort entschieden wird und warum dich das etwas angeht. Der Podcast ist eine Kooperation von »nd«, Europa.Blog und die-zukunft.eu. Alle Folgen auf dasnd.de/europa

Die Letzte Generation möchte vor allem eines sein: anders. Dazu gehört auch, sich auf das Wahlprogramm nicht per Mehrheitsentscheid zu einigen, sondern durch einen Konsens: Am Ende sollen alle Teilnehmenden hinter allen Forderungen stehen. Aber es gibt Differenzen. Wer soll die Zielgruppe sein? Geht es um reformistische oder revolutionäre Inhalte? Am Ende muss doch eine ganz gewöhnliche Abstimmung herhalten. Zumindest an diesem Abend behält das reformistische Lager die Oberhand. Mit der »Enteignung des Energie- und Verkehrssektors« ist die einzige radikale Forderung vom Tisch. Doch immerhin: Nach einer dreistündigen Sitzung hängen fünf Zettel an der Tafel. Diese sollen noch nicht öffentlich kommuniziert werden, um eine Beeinflussung der weiteren runden Tische zu vermeiden.

Ungefähr ein Prozent der Stimmen bräuchte die Letzte Generation, um einen Sitz im EU-Parlament zu ergattern. 2019 reichten den Piraten 0,7 Prozent beziehungsweise 243.302 Stimmen für ein Mandat. Es ist fraglich, ob die Klimaaktivist*innen das erreichen werden. Hinrichs findet ohnehin: »Es ist nicht das finale Ziel einen Sitz zu gewinnen – unser Ziel ist es, schon den Wahlkampf aufzumischen«. Und was kann man von der Letzten Generation erwarten, sollte sie es doch ins Parlament schaffen? Immerhin nennt sie sich »Parlament aufmischen – Stimme der Letzten Generation«. Dafür müsse man nur ein bisschen kreativ sein, meint Hinrichs mit einem Lächeln. Infrage komme alles, was in einem friedlichen Rahmen bleibt und mit den Werten der Gruppe einhergeht. Letzte Woche ließen sich die Spitzenkandidat*innen oberkörperfrei im EU-Parlament ablichten. Bei Fotostunts soll es aber nicht bleiben: »Ob das eine Sitzblockade vorm Plenarsaal ist oder das Mikro mit Pudding eingerieben wird – I can’t name it.« Ob das reicht, um das Parlament aufzumischen?

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