Erste Anzeichen von Deindustrialisierung

Wirtschaftsinstitute befürchten »hartnäckige Stagnation« am deutschen Markt

  • Hermannus Pfeiffer
  • Lesedauer: 4 Min.
Auch im Baubereich bewegt sich derzeit nicht viel.
Auch im Baubereich bewegt sich derzeit nicht viel.

Deutschlands Wirtschaft wächst wieder. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist von Januar bis März preis-, saison- und kalenderbereinigt um 0,2 Prozent gestiegen. Wie das Statistische Bundesamt vergangenen Freitag mitteilte, bestätigte sich damit das Ergebnis der Schnellmeldung von Ende April. »Nachdem das BIP zum Jahresende 2023 zurückgegangen war, startete die deutsche Wirtschaft mit einem positiven Vorzeichen ins Jahr 2024«, blickte die Präsidentin des Statistikamtes, Ruth Brand, optimistisch nach vorne. Weniger günstig sieht es aus, wenn wir in den Rückspiegel schauen. Die Wirtschaftsleistung entspricht gerade einmal jener vor Corona, während etwa die USA, deren Wirtschaft weit dynamischer wächst, die Pandemie-Delle bereits 2021 ausgeglichen hat. Gegenüber dem Vorjahresquartal ging die Wirtschaftsleistung in Deutschland sogar um 0,2 Prozent zurück.

Von dem grünen Wirtschaftswunder, das Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) noch im Frühling vor einem Jahr versprochen hatte, ist wenig zu spüren. So sind etwa die großen Hoffnungen der Autoindustrie in das E-Auto erst einmal geplatzt: Nur jeder zehnte Neuwagen, der im April verkauft wurde, hatte einen batterieelektrischen Antrieb. Die Exporte des Maschinenbaus sind rückläufig. Und die chemische Industrie drosselt energieintensive Anlagen.

Der Aufschwung bleibt aus. Das zeigt die Konjunkturumfrage der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK) zum Frühsommer, an der sich 24 000 Unternehmen aus allen Branchen und Regionen beteiligt haben. »Die aktuelle Lage der Unternehmen ist mau, in der Industrie sogar schlecht. Die Erwartungen zeigen keine kraftvolle Aufwärtsbewegung«, klagte DIHK-Geschäftsführer Martin Wansleben bei der Vorstellung der Umfrage in der Vorwoche.

Damit schneidet Deutschlands Wirtschaft auch im europäischen Vergleich schlecht ab. Die Gründe sind vielfältig. Einer ist die Abkoppelung vom preiswerten russischen Gas sowie die starke Exportorientierung der Industrie und der mit ihr verbundenen Dienstleistungen. Eine Rolle spielen auch die gestiegenen Kosten von Krediten, seit die Europäische Zentralbank im Sommer 2022 ihre Zinswende einläutete. Deutsche Unternehmen trifft dies besonders hart, weil sie sich hauptsächlich über Bank- und Lieferantenkredite finanzieren. Aktien- und Kapitalmarkt spielen – anders als in Frankreich oder Großbritannien – hierzulande nur eine Nebenrolle.

Hoffnungen, diese Defizite durch eine stärkere Binnennachfrage auszugleichen, sind geschwunden, wie jetzt die detaillierten BIP-Zahlen des Statistischen Bundesamtes belegen. Wirtschaftsverbände beklagen zudem strukturelle Probleme: Hohe Energie- und Personalkosten, dazu im Vergleich zur internationalen Konkurrenz eine hohe Steuerlast, Fachkräftemangel und eine überbordende Bürokratie, die vor allem kleine und mittlere Betriebe schwer belastet. DIHK-Chef Wansleben sieht sogar »alarmierende Anzeichen einer schrittweisen Deindustrialisierung«.

Nun spiegeln Umfragen und Konjunkturzahlen immer nur eine Momentaufnahme wider. Dabei gibt es durchaus positive Signale. So sind deutsche Konzernchefs überdurchschnittlich optimistisch in Bezug auf das eigene Unternehmen, zeigt eine globale Umfrage der Beratungsfirma EY. Der Ausbau erneuerbarer Energien und der dafür notwendigen Netze geht, wenngleich stockend, voran. Und während der Wohnungsbau lahmt, investieren Staat und Wirtschaft weiter in Infrastruktur und Gewerbebauten, wodurch der Hochbau boomt. Außerdem zeigen Frühindikatoren für den Euroraum, dem wichtigsten Abnehmer deutscher Produkte, seit drei Monaten Wachstum an. Das könnte die hiesige Exportwirtschaft im zweiten Halbjahr beflügeln.

Insgesamt hat sich hierzulande ein Wechsel »von einer dynamischen Entwicklung zu einer hartnäckigen Stagnation« durchgesetzt, analysieren das unternehmensnahe Institut der deutschen Wirtschaft und das gewerkschaftsnahe Institut für Makroökonomie und Strukturforschung in einer gemeinsamen Studie. 600 Milliarden Euro: Diese Investition des Staats könnte Deutschland in den nächsten zehn Jahren voranbringen. Sie könnte das Bildungssystem verbessern, Investitionsstau in den Kommunen beseitigen, Straße und Schiene ausbauen und die Dekarbonisierung ermöglichen.

Rudolf Hickel, Aushängeschild der linken Ökonomie, kommentiert den Vorschlag gegenüber »nd« als »gut begründet«. Die Antwort des Staates auf diese infrastrukturellen Defizite, die zulasten nachfolgender Generationen gingen, könne nur ein über Kredite finanziertes Sondervermögen sein. Hickel hält – anders als bei der Schuldenbremse – die hierfür notwendige Zwei-Drittel-Mehrheit im Bundestag für erreichbar. »Im Unterschied zur Schuldenbremse sind im Sondervermögen die Investitionsprojekte spezifizier- und kontrollierbar«, begründet er seinen Optimismus. Unternehmen, und auch das ist Hickel wichtig, würde mit dem Sondervermögen mittelfristige Planungssicherheit geboten. Dies sei ein wirksames Mittel gegen die aktuelle konjunkturelle Schwäche.

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