Ist da jemand im Himmel?

Wie viele Engel gibt es? Und wie viele Teufel? In »Engel & Heilige« prüft Eliot Weinberger die Lage

  • Frank Schäfer
  • Lesedauer: 6 Min.

Als man noch keine Superhelden-Comics lesen und auch noch nicht enerviert sein konnte von der Inflation ihrer Verfilmungen, erschufen die Menschen Göttersagen und Mythen, um ihr Bedürfnis nach Übermenschlichkeit zu stillen. Der Monotheismus, nicht zuletzt das Christentum, sorgte für eine Reduzierung des Personals und eine Verflachung des Stoffs, aber die Fantasie der Gläubigen wurde ja nicht weniger.

Folglich kleideten sie den engen Rahmen, den ihr die christliche Religion ließ, aufs Opulenteste aus. Von Gott durfte man sich bekanntlich kein Bild machen, aber mit seinen Abgesandten hienieden, den Engeln, genauso wie mit den vom Göttlichen besonders durchpulsten Erdenklößen, den Heiligen, ließ sich das allemal kompensieren. Hier durfte die produktive Vorstellungskraft wild ins Kraut schießen, wie Eliot Weinberger in seiner erstaunlich bunten, widersprüchlichen und fulminant komischen Nummernrevue »Engel & Heilige« zeigen kann.

Der New Yorker Schriftsteller und Übersetzer ist auch ein religionsphilosophisch interessierter Essayist. Er hat in den Archiven und Bibliotheken gegraben und trägt hier nun zusammen, wie das Abendland in den verschiedenen Jahrhunderten sich ihre christlichen Silversurfer oder Wonder Women imaginierte. Mehr als Imagination kann es kaum sein, das machen schon allein die vielen widersprüchlichen, wenn auch mit dem Brustton der Überzeugung vorgetragenen Beschreibungen deutlich. Schon bei der Anzahl der Engel herrscht große Uneinigkeit. Origines von Alexandrien (3. Jh.) geht von 6666 Engeln pro Legion aus, Marsilio Ficino (15. Jh.) stimmt zu und rechnet mit 6666 Legionen pro Ordnung, von denen es vermeintlich neun gibt (ich hätte ja auf sechs getippt). Ficino müsste also auf genau 399 920 004 Engel kommen, bisschen wenig, mag er sich gedacht haben, und nimmt deshalb doch lieber eine »unermessliche« Gesamtzahl an. So steht es auch schon in der Offenbarung des Johannes, die lieber etwas nebulöser von »zehntausendmal zehntausend und vieltausendmal tausend« Engeln fabuliert. Man sieht, keiner weiß es so genau, woher auch?

Aber das hindert Erleuchtete, Mystiker und Scholastiker dennoch nicht daran, immer wieder ganz konkret zu werden. Wobei die Zweifler meistens auch nicht weit entfernt sind, die ganz grundsätzlich fragen, wie solche doch körperlosen Wesen überhaupt zu zählen seien. Um Genauigkeit bemüht ist man auch bei den abtrünnigen Engeln – den Teufeln. Am meisten zu bieten hatten die Lutheraner, zunächst 2,5 Milliarden, später erhöhten sie auf 100 Billionen, was Weinberger zu denken gibt: Auf jeden Christen »kamen zur Zeit der Reformation rund 100 000 Teufel, was nahezu unendliche Möglichkeiten für Untaten eröffnete«.

Auch bei ihrem Profilbild ist man sich selten einig und vielleicht gerade deshalb so apodiktisch. Engel können aus Licht, aus verdichteter Luft, vielarmig und -beinig sein, die Anzahl ihrer Augen und Köpfe divergiert entschieden, und wie sie intellektuell und charakterlich beschaffen sind, auch dazu gibt es durchaus mehr als zwei Meinungen. Ob sie einen freien Willen haben, Gefühle wie Schmerz oder Trauer empfinden können oder intellektuelle Fähigkeiten besitzen, das erscheint zumindest fraglich. Vielleicht doch eher nicht.

Für die Mystikerin Mechthild von Magdeburg ist ihre vollkommene Schlichtheit denn auch fast schon ein Ärgernis. »Was schert es mich denn, was die Engel empfinden?«, fragt sie aus gutem Grund. Noch besser ist allerdings die Frage, die man sich auch bisweilen gestellt hat, »weshalb Gott, der doch weder schlummert noch schläft, wenn er über uns alle wacht, auf Hilfe der Schutzengel angewiesen sein sollte«. Ohnehin ist das Schutzkonzept eine späte Vorstellung, ursprünglich sind Engel offenbar Krieger in voller Rüstung und allzeit bereit, wie es etwa Martin Luther gern glauben machen will, die Glaubensfeinde, also in seinem Fall »die Türken mit dem Papst in den Abgrund der Hölle« zu stürzen.

Weinberger hält sich mit Wertungen vollkommen zurück, und schon gar nicht macht er sich lustig über die Fantasten und Religionsgelehrten vergangener Jahrhunderte. Im Gegenteil, er zitiert, referiert und montiert nur, aber das aufgebotene Material zeigt gerade in der Massierung so wunderbar das Artifizielle, das aberwitzig Durchgeknallte, politisch Kalkulierte und also Menschengemachte der christlichen Religion, dass man sich wundern muss, dass man dieser Vorstellungswelt weiterhin so viel Bedeutung und folglich Macht zubilligt.

Der zweite, den mitunter ziemlich komischen Heiligen gewidmete Teil des Buches ist noch kurioser, weil es hier in der Regel um historisch verbürgte Persönlichkeiten geht. Bei ihnen herrscht in stärkerem Maße das Plausibilitätsprinzip, und insofern ist die Fallhöhe größer – etwa wenn die von Gott Gebenedeiten mal wieder beim Predigen »schweben«. Und hier offenbaren sich auch umso deutlicher die Instrumentalisierungs- und Machterhaltungsstrategien der Kirche. Bei Thérèse von Lisieux strickt sie geradezu generalstabsmäßig, mit vielen Retuschen und Geschichtsklitterungen, einen Kult um die Gläubige, die daraufhin eine ganze Merchandise-Industrie begründet.

Angesichts ihrer überwältigenden Popularität werfen die amtierenden Päpste Benedikt XV. und Pius XI. gleich mal die selbstgesetzten zeitlichen Fristen über den Haufen und sprechen sie schon 26 Jahre nach ihrem Tod selig und flinke zwei Jahre später heilig. Auch ideologisch kann man sie vor den Karren spannen. Mit ihr lässt sich gegen die säkularen Tendenzen der französischen Regierung im frühen 20. Jahrhundert opponieren, im Ersten Weltkrieg wird sie als »Leuchtfeuer der französischen Truppen« gebraucht, im Zweiten Weltkrieg steht sie dem Vichy-Regime bei und spendet auf Votivbildchen dem Nazi-Kollaborateur Marschall Pétain ihren Segen. Sie scheint immer genau das zu sein, was die Kirche gerade politisch braucht.

Mittlerweile touren ihre Reliquien unablässig durch die Welt, ein schwer frömmelnder Astronaut hat sogar ein Stück von ihr mit in die Raumfähre Discovery genommen und ist damit zwei Wochen um die Erde gekreist, weil die Nonne, die selbst ihr Kloster nie verlassen hat, angeblich den Glauben noch auf den »entlegensten Inseln verkünden« wollte. »Wer den Reliquienschrein besichtigt, trifft keine Knochen«, zitiert Weinberger eine klerikale Tourmanagerin der toten Thérèse. »Man trifft eine Freundin.« Weinberger erspart sich einen Kommentar, weil er unnötig ist. Wie man Glauben politisch und gesellschaftlich choreografiert, zeigt sich hier paradigmatisch.

Auch eine Conclusio braucht es nicht. Weinberger schließt sein Buch mit einem Witz, »Das Jenseits« überschrieben, der einem Agnostiker wie ihm natürlich gefallen muss. »Im Glödnitztal in Kärnten erzählte man sich noch bis vor kurzem die Geschichte von zwei Schafhirten, alten Freunden, die einen Pakt schlossen: Starb der eine, würde er zurückkehren und dem anderen erzählen, was er gesehen hatte. Tatsächlich starb einer von ihnen wenig später und kehrte auch tatsächlich zurück. Er sagte: ›Es ist nicht so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Es ist nicht so, wie du es dir vorstellst. Sie sind sehr streng, was die Regeln angeht.‹ Dann verschwand er.«

Eliot Weinberger: Engel & Heilige. A.d. amerik. Engl. v. Beatrice Faßbender. Berenberg, 168 S., geb., 28 €.

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