Argentinien: In Rente und trotzdem streiken

Der soziale Kahlschlag unter Präsident Milei treibt in Argentinien immer mehr Menschen zu Protesten auf die Straße

  • Christian Rollmann, Buenos Aires
  • Lesedauer: 8 Min.
Seit Monaten protestieren Gewerkschaften, linke Parteien und Initiativen wie die Jubilado/as Insurgentes (Aufständische Rentner*innen) erbittert gegen die Politik von Präsident Javier Milei.
Seit Monaten protestieren Gewerkschaften, linke Parteien und Initiativen wie die Jubilado/as Insurgentes (Aufständische Rentner*innen) erbittert gegen die Politik von Präsident Javier Milei.

Es ist ein kühler Herbstmorgen, die Plaza Constitución mit ihrem monumentalen Bahnhofsgebäude wirkt ungewohnt verschlafen. Normalerweise verkehren hier im Süden von Buenos Aires über 30 Buslinien. Doch heute ist kein gewöhnlicher Tag in der argentinischen Hauptstadt. Es ist Generalstreik – aufgerufen von den großen Gewerkschaftsverbänden – gegen die Regierung Javier Mileis und ihre arbeiterfeindlichen Sparmaßnahmen. Frühmorgens entscheidet sich an Tagen wie diesen, ob der Streik erfolgreich wird. Wie viele Menschen schließen sich aktiv der Arbeitsniederlegung an? Wie viele bleiben zu Hause, weil sie schlicht nicht zur Arbeit kommen? Im Laufe des Vormittags wird klar, es geht nicht viel. Busse, U-Bahnen und Züge bleiben in ihren Depots, Flugzeuge heben nicht ab und Lkw stehen still. Schulen und Müllabfuhr: Fehlanzeige.

Vor dem verschlossenen Eingang des Bahnhofs, der sonst Zigtausende Menschen in die Stadt entlässt, steht ein Mann im mittleren Alter. Durch sein Cap mit dem Logo eines Baumaschinenherstellers ist er unschwer als Bauarbeiter zu erkennen. Er hat es nicht mehr nach Hause geschafft, bevor der Streik um Mitternacht begann. Der Vater von zwei Kindern erzählt, er habe deswegen die Nacht auf einer Parkbank verbracht. Einen Zug zu seinem Arbeitsort rund 40 Kilometer südöstlich von Buenos Aires sucht er vergebens. »Das Geld reicht einfach nicht, um meine Familie zu versorgen«, sagt er. Einen Tag ohne Arbeit könne er sich nicht leisten. Er ist offensichtlich kein Fan des marktradikalen Milei, für den er eine Botschaft hat: »Vergessen Sie die Armen und die Arbeiter nicht.« Er hoffe, Gott helfe dem Präsidenten und dass das alles bald aufhöre.

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Graciela Villamonte setzt nicht auf übersinnliche Hilfe. Die 73-Jährige ist bei den Jubilado/as Insurgentes (Aufständische Rentner*innen) aktiv. »Letztlich mussten die Gewerkschaftsverbände einlenken und zum Generalstreik aufrufen«, erklärt sie. »Der Druck von unten war einfach zu stark.« Die Forderungen nach einem Generalstreik waren seit Langem vielerorts zu hören, so auch beim wöchentlichen Rentnerprotest am Kongress. Immer mittwochs ziehen Senior*innen vor das argentinische Parlament. Dort skandieren die Aktivist*innen »Generalstreik sofort« und »Jubilados, carajo!«, was so viel wie »Rentner, verdammt noch mal!« heißt. Aber wieso streiken überhaupt Menschen, die in Rente sind? In Argentinien erfordern das die Umstände. Denn wer die Mindestrente von umgerechnet rund 215 Euro bekommt, braucht einen Job, um ans Monatsende zu kommen. Villamonte etwa arbeitet weiter als Anwältin. So verdiene sie sich zumindest etwas dazu, auch wenn ihre Klient*innen so arm seien wie sie selbst.

»Wir fordern einen unbefristeten Streik, der in einen Kampfplan eingebettet ist und von Großdemos begleitet wird«, sagt Villamonte. »Die 24 Stunden Generalstreik waren angesichts der Grausamkeiten von Milei nicht genug.« Die Spitzen des größten Gewerkschaftsverbands CGT hatten sich lange geziert, wollten kein Datum für den Streik festlegen. Letztlich wurde es der 9. Mai. Auch wenn es der zweite Generalstreik innerhalb von fünf Monaten gegen den neuen Präsidenten war, wünschen sich viele eine konfrontativere Haltung.

Mit seinem sogenannten Grundlagen-Gesetz will Milei unter anderem die Arbeitsverhältnisse deregulieren. Konkret heißt das, die Probezeit auf bis zu zwölf Monate verlängern, Abfindungsklagen verunmöglichen und arbeitgeberseitige Strafen für Schwarzarbeit abschaffen. Im Abgeordnetenhaus hat das Gesetz die erste Hürde genommen. Jetzt hängt es seit Wochen im Senat fest, wo Mileis Partei La Libertad Avanza (Die Freiheit schreitet voran) nur wenige Sitze hat. »Mir macht das Angst, weil Modernisierung fast immer eine Verschlechterung für die Arbeiter bedeutet«, sagt Villamonte. Den Granden der CGT traut sie nicht. Diese haben immer wieder die Arbeiter*innen verraten, etwa in den neoliberalen 1990er Jahren.

Der CGT-Vorsitzende Héctor Daer zeigte sich zufrieden: »Die breite Teilnahme zeigt, dass die Bevölkerung das geplante Gesetz ablehnt.« Alles in allem sei das ein überzeugender politischer Streik gewesen. Die Regierung bezifferte derweil den volkswirtschaftlichen Schaden auf knapp eine halbe Milliarde Euro und warf den Gewerkschaften vor, sie hätten durch das Lahmlegen des Verkehrs die Menschen von der Arbeit abgehalten. »Sie sollten aufhören zu nerven und anfangen zu arbeiten«, ätzte Sicherheitsministerin Patricia Bullrich. Das sei ein Streik der Schwäche. Demonstrativ bestieg sie einen der wenigen zirkulierenden Busse, um dann festzustellen, dass die ihr zugesteckte Buskarte kein Guthaben hatte. PR-Stunt missglückt.

Der Preis eines Bustickets in Buenos Aires hat sich, seit Milei im Dezember vereidigt wurde, mehr als verfünffacht. Die Regierung will schrittweise alle Subventionen streichen und kündigte weitere drastische Erhöhungen an. Viele Haushalte werden künftig im Vergleich zum Vorjahr das Zehnfache für ihre Gasrechnung bezahlen müssen. Die Abschaffung von Förderungen und die Abwertung des Pesos sind die zentralen Treiber der Inflation: Aktuell liegt diese bei knapp 290 Prozent, bei vielen Grundnahrungsmitteln ist sie noch höher. Für eine Packung Reis muss man 555 Prozent von dem zahlen, was sie vor einem Jahr gekostet hat.

Wie das argentinische Statistikamt berichtete, verloren die Gehälter im Zeitraum Dezember bis März im Schnitt um 38 Prozent an Kaufkraft. Argentinien rutscht zudem in eine tiefe Rezession: Der Konsum ist in den ersten drei Monaten des Jahres um ein Zehntel zurückgegangen, die Industrie schrumpfte im gleichen Zeitraum um 21,2 und der Bausektor um 42,2 Prozent. Suppenküchen haben extremen Zulauf. Immer mehr Menschen sind enttäuscht vom selbsternannten Anarchokapitalisten Milei. Im vergangenen November gaben ihm in der Stichwahl knapp 56 Prozent ihre Stimme. Im Wahlkampf versprach er, die Einsparungen würden lediglich die politische Kaste treffen. Doch heute ist klar: Die Zerstörung des Staates trifft vor allem Menschen mit wenig Geld.

So sehr der politische Outsider Milei den linksperonistischen Vorgängerregierungen Vetternwirtschaft vorwirft, so wenig bemüht er sich, seine eigenen Seilschaften zu verschleiern. Zahlreiche seiner Funktionär*innen waren zuvor für zwei große Konzerne tätig: den Baukonzern Techint und das Medienimperium América. Diese Unternehmen konnten bereits von Steuersenkungen, Aufträgen und strategisch wichtigen Posten profitieren. Mileis Hasstiraden gegen die Kaste richten sich derweil nicht mehr gegen Berufspolitiker*innen an sich, sondern gegen jene, die progressive Politik machen. Seine bizarre Rede beim Kongress der rechtsextremistischen spanischen Partei Vox in der letzten Woche, in der er von einem um sich greifenden Sozialismus halluzinierte, komplettiert das Bild.

Graciela Villamonte erinnert sich an bessere Zeiten. Vor einem Jahrzehnt, als Cristina Fernández de Kirchner noch das Land regierte, reichte ihre Rente, um zu ihrer Schwester nach Spanien zu fliegen. Heute undenkbar. Doch zumindest Reisen ans Meer waren bis vor Kurzem noch möglich. Zum Beispiel nach Chapadmalal. In der staatlichen Hotelanlage, unweit des bekannten Badeorts Mar del Plata, konnten Menschen mit wenig Geld günstig das Meer genießen – und mit etwas Glück Wale sehen. Recht auf Urlaub gewissermaßen. Diesen Ort hat Milei nun geschlossen. Die Rentnerin erzählt, wie sie mit der Preiskrise umgeht: Frischkäse auf dem Frühstückstoast ist nicht mehr drin, ein bisschen Marmelade muss reichen. Für Fleisch fährt Villamonte zu einem günstigen Supermarkt außerhalb der Stadt. Kaufte man früher kiloweise in einer Fleischerei, müssen jetzt kleine Portionen reichen. Und insgesamt heißt es, reduzieren und nach Sonderangeboten Ausschau halten.

Ortswechsel nach Longchamps. 40 Minuten im Zug von Constitución aus Richtung Süden. Eléctrico nennen sie die Bahn stolz, war sie doch eine der ersten, die nicht mehr von einer Diesellok gezogen wurde. Wo die Häuser flacher und die Bebauung weniger dicht werden, endet bald der Großraum Buenos Aires mit seinen 14 Millionen Einwohner*innen. Hier hat sich Víctor Amarilla vor vielen Jahren ein Haus gebaut. Er ist seit seiner Jugend politisch aktiv und versteht sich als revolutionären Sozialisten, wie er sagt. Seine Partei, die sich Sozialistische Konvergenz nennt, folgt den Ideen Leo Trotzkis. Daneben ist auch er Mitglied bei den Jubilado/as Insurgentes. »Vor zwei Jahren waren wir noch cuatro gatos locos, wie man hier so sagt,« erinnert er sich. Das war, bevor Milei die politische Bühne betrat. Aus den sprichwörtlichen vier verrückten Katzen sind mittlerweile mehrere Dutzende geworden, die regelmäßig zu ihren Treffen kommen.

»Eine zentrale Forderung ist ein Mindestlohn von 850 000 Pesos«, sagt Amarilla. »Denn so viel braucht man, um nicht arm zu sein.« Umgerechnet sind das rund 890 Euro und Mindestlohn ist zugleich Mindestrente. Amarilla ist einer, der schon in vielen Berufen gearbeitet hat. Erst als Maurer, dann als Busfahrer und zum Schluss lange als Eisenbahner. 30 Jahre lang zahlte er in die Rentenkasse ein, dafür bekommt er nun umgerechnet 300 Euro im Monat. Weil das nicht reicht, arbeitet der 71-Jährige halbtags als Hausmeister im Stadtzentrum. Dafür nimmt er – wenn nicht gerade Generalstreik ist – morgens um halb 6 den Zug.

Milei selbst nennt sich liberal-libertär. Amarilla sieht das anders: »Die Regierung ist einfach nur extrem rechts.« Aus den Verbindungen zu radikalen Rechten auf der ganzen Welt macht Milei keinen Hehl, seine Vizepräsidentin Victoria Villarruel relativiert immer wieder die letzte Diktatur. Es ist das erste Mal, dass in Argentinien die extreme Rechte durch Wahlen an die Macht kam. Im 20. Jahrhundert hatte das Militär mehrfach geputscht, um rechte Regierungen zu installieren.

Amarilla glaubt, Milei könne sich nicht lange im Amt halten: »Dafür fehlt ihm ein ökonomischer Plan.« Wie lange das Experiment Milei noch weitergeht, vermag aktuell niemand zu prognostizieren. Der Rechtsaußen bittet um Geduld, beschwört das Durchhaltevermögen der Menschen. Wenngleich die Argentinier*innen es gewohnt sind, Krisen zu erdulden, haben sie auch gezeigt, wie Massenaufstand geht. So wie im Dezember 2001, als der damalige Präsident Fernando de la Rúa mit dem Hubschrauber fliehen musste. Davon ist Milei noch weit entfernt. Doch wenn er sein Verarmungsprogramm weiter vorantreibt und die Spannungen zunehmen, kann sich das schnell ändern.

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