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Im Buch des Eises lesen
Was Tiefbohrkerne aus Grönland und der Antarktis über das Klima verraten
Weshalb Klimaforscher Bohrkerne von den großen Eisschilden der Antarktis oder von Grönland behandeln, als hätten sie diese in einer Goldmine geschürft, ist schnell gesagt: Sie können im Vergleich zu anderen Klimaarchiven verhältnismäßig gut datiert werden. Und weil es teuer ist, so fern der Heimatinstitute, an Orten bar jeglicher Infrastruktur zu bohren, ist es sinnvoll, sie für die Forschung zu erhalten.
Die Menschheit hat sich allerhand einfallen lassen, um etwas zu speichern: Lebensmittellager, Museen, schon bei den alten Ägyptern gab es Bibliotheken. Aber Eis? Wie kann man Eis in unseren sommerlichen Breiten über lange Zeiträume bewahren? Schwer vorstellbar. Doch es gibt sie: die »Eisbibliothek«, in Bremerhaven als Dependance des Alfred-Wegener-Instituts (AWI) für Polar- und Meeresforschung.
Dem Institut kam zugute, dass es nach langen Streitigkeiten nicht in Kiel, sondern 1980 an der Wesermündung gegründet wurde. Die Stadt ist immer noch ein Zentrum der Fischverarbeitung. Prominente Firmen wie »Frosta« oder »Nordsee« müssen beträchtlichen Raum für ihre Tiefkühlgüter vorhalten. Als die Bohrkerne im Stammhaus nicht mehr untergebracht werden konnten – damals noch verpackt in Plastikhüllen und einzeln sichtbar, was den Eindruck einer Bibliothek begünstigte – mietete das Institut von dem Logistikunternehmen Nordfrost eine große Lagerhalle. Am Stadtrand, hinter dem gut besuchten Touristen-Hotspot Fischereihafen. 2018 konnte ein dem neuesten Stand der Technik angepasstes Kühlhaus bezogen werden.
Im gefütterten Anorak auf die Kälte gefasst, öffnet Johannes Freitag das Stahltor und steht erst einmal im Nebel, den die feuchte Luft hereingetragen hat. Konstant minus 28 Grad Celsius herrschen hier. »Immer noch recht warm«, findet der Glaziologe Freitag, der sich für die Prozesse interessiert, die im Eis geschehen oder geschehen sind. Für grönländisches Eis genüge das, aber bei tiefen Bohrkernen aus der Antarktis messe man mitunter minus 50 Grad, und da sie hier nicht mehr unter Druck liegen, entspannen sich die Kristalle, was die Untersuchung eingeschlossener Luftblasen beeinträchtige. Deshalb werden antarktische Bohrkerne meist am jeweiligen Camp gelagert.
Eine Lagerhalle voller Eis
Eine beeindruckend weite Halle tut sich auf, ein Hochregallager, dessen Helligkeit von tausenden weißen Styroporboxen noch verstärkt wird. Hier ruhen die Schätze der Eisfreaks auf Paletten, die mit dem Hubwagen ein- und aussortiert werden. Das älteste Eis, vor etwa 800 000 Jahren entstanden, stammt von der EPICA-Bohrung am Dome C, einer der höchsten Stellen des ostantarktischen Eisschildes. Es befindet sich in kleineren Kisten, weil nur noch Reste des nach allen Regeln der Kunst untersuchten Bohrkerns vorgehalten werden. In die normierten Boxen passen jeweils sechs auf Meterlänge geschnittene Segmente eines Kerns.
»Wenn wir Informationen sichtbar machen, in welcher Zeit wir uns befinden, das motiviert die Crew.«
Johannes Freitag Glaziologe
Selbstverständlich hat jede Box eine Nummer, sodass die Wissenschaftler über die Datenbank ersehen können, was drin ist. Aber um sicherzugehen, kleben an den Sichtseiten Etiketten. Auf einer steht mit schwarzem Filzstift geschrieben: B51. »Wenn ich das lese, weiß ich sofort: Das ist der 51. Eiskern, den wir vom Alfred-Wegener-Institut 2012 in der Ostantarktis gebohrt haben«, sagt Johannes Freitag. »Etwa 200 Meter tief, 75 Grad Süd, 15 Grad Ost. Hier steht Archiv dran – da weiß ich, wie die Stücke aussehen, allein durch diese Kennung. Ich war ja an fast allen Bohrungen beteiligt. Das ist ein Halbkern, der noch mal unterteilt ist in Viertelkerne.«
Analysiert wird bereits vor Ort
Freitag schätzt die besondere Stimmung an den Bohrorten, den »magischen Moment«, wenn es so weit ist, ein Stück Klimageschichte ans Licht zu ziehen. Weil man vom Wetter unabhängig sein will, bohrt man in einem turnhallengroßen Gewölbe unter dem Eis mit etlichen Gängen zu Untersuchungslabors und Zwischenlagern. Zentral steht dort das hohe Bohrgestänge. Die Fahrt in große Tiefen und herauf dauert mitunter eine halbe Stunde. Dann taucht der vier Meter lange Bohrer auf. Behutsam wird der zehn Zentimeter dicke Kern aus dem Stahlrohr geschoben und in Meterlängen geteilt.
Bereits vor Ort werden die elektrischen Eigenschaften gemessen; sie sind, je nachdem wie viel und welche Spurenstoffe sich im Kern befinden, unterschiedlich. Beispielsweise können Partikel von Vulkanausbrüchen wahrgenommen werden. Das sind Anhaltspunkte, wenn man das Eis datieren möchte. Und weil die elektrischen Eigenschaften auch von der Orientierung der Kristalle abhängig sind, kann man auf Deformationsvorgänge schließen. »Dadurch wissen wir schon im Camp, wie alt das Eis ungefähr ist«, sagt Freitag. »Die Bohrungen sind ja anstrengend und auf Dauer – immer dieselben Handgriffe – vielleicht auch ermüdend. Wenn wir Informationen sichtbar machen, in welcher Zeit wir uns befinden, das motiviert die Crew.«
Erste Bohrungen waren geheim
Die ersten Tiefbohrungen in Grönland, zunächst geheim gehalten, wurden 1993 auf der US-amerikanischen Militärbasis Century beendet. Es folgten sechs weitere. Die letzte, EastGRIP (East Greenland Ice Core Projekt), dauerte, durch die Corona-Zeit unterbrochen, von 2016 bis 2023. Sie erreichte eine Tiefe von 2664 Metern. Im vergangenen Winter haben die Glaziologen des AWI den Gesamtkern prozessiert; zehn Männer und Frauen wuselten über acht Wochen im minus 20 Grad kalten Eislabor des Instituts und schnitten Kernsegmente für die bevorstehenden Untersuchungen. Danach wurden sie an spezielle Arbeitsgruppen in mehreren Ländern verteilt.
Mit jedem neuen Bohrkern hoffen die Wissenschaftler, die Klimageschichte des grönländischen Eisschildes – und somit einer die ganze Nordhemisphäre beeinflussenden Region – genauer erfassen zu können. Aber es ist nicht so, wie man sich das vielleicht vorstellt, dass ein besonders aussagekräftiger Kern das Nonplusultra wäre. Die Bedingungen des Niederschlags und was mit ihm weiter geschieht, sind an den einzelnen Orten verschieden, weil das Eis fließt. Es gibt Scher-zonen, allerlei Faltungen; das muss alles berücksichtigt werden.
Die Spuren der letzten Warmzeit
Man kann also nicht anhand eines einzelnen Bohrkerns sagen: Die letzte Warmzeit, das nach einem Fluss in den Niederlanden benannte Eem, begann vor 120 000 Jahren. An einem anderen Kern weist die Isotopenanalyse den Kipppunkt in die Warmzeit beispielsweise vor 125 000 Jahren aus. Die Studien zeigen, dass die Datierung der Ereignisse in der Vergangenheit noch große Unsicherheiten aufweist. Die Glaziologen müssen die einzelnen Messgrößen, insgesamt die Ergebnisse aller Bohrkerne synchronisieren, um die wahrscheinlichen Extravaganzen der Klimaschaukel eingrenzen zu können. Und man braucht dazu mehrere Methoden, weil jede Methode unterschiedliche Zeitskalen hat.
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Das Eem-Interglazial – die Zeit zwischen zwei Eiszeiten – ist interessant, weil es Vergleiche mit unserem heutigen Klimasystem zulässt. Jene Ära, in der die Neandertaler noch Mammuts jagten, dauerte von etwa 130 000 bis 115 000 Jahre vor heute. An einem der am schwersten zugänglichen Orte auf dem grönländischen Inlandeis erreichte im Juli 2010 die mit großen Erwartungen verbundene NEEM-Bohrung (North Greenland Eemian Ice Drilling) das Felsbett in einer Tiefe von 2537 Metern. Wissenschaftler aus 14 Nationen waren an dem Projekt beteiligt. Erstmals konnten die Eislagen des Eem-Zeitalters durchbohrt und untersucht werden. Sogar Material aus der davor liegenden Eiszeit wurde geborgen.
Eine der umstrittensten Fragen war: Gab es auf Grönland während der letzten Warmzeit Eis? In Nord-West-Grönland wurde eben deshalb gebohrt, weil man glaubte, auf Reste eines kompakten Eem-Eisschildes zu stoßen. »Ja, wir fanden Eis, aber es war in seiner Stratigrafie gestört«, sagt Freitag. »Es hat eine Durchmischung stattgefunden. Das konnten wir auch an anderen Bohrkernen feststellen. Und die räumliche Verteilung war unterschiedlich. Daran sieht man wieder, dass erst die Studien sämtlicher Daten zu einem Gesamtwissen führen.«
Der Vergleich der Isotopenverhältnisse zwischen schwerem und leichtem Wasserstoff oder Sauerstoff – ein Maß für die Temperatur, mit der der Schnee gefallen ist – ergab, dass es im Eem um die fünf Grad wärmer war als heutzutage – Temperaturen, welche die gegenwärtige Zivilisation zur nächsten Jahrhundertwende erreichen würde, wenn sie nicht radikale Gegenmaßnahmen in die Wege leitet. Ebenfalls alarmierend ist, dass es in bestimmten Perioden krasse Klimawechsel gegeben hat von Warm zu Kalt und umgekehrt, Sprünge von fünfzehn bis zwanzig Grad Celsius innerhalb weniger Jahrzehnte. Der Klimacrash kann schnell geschehen.
Ein überraschendes Fazit war: Trotz der höheren Lufttemperaturen schrumpften die Eismassen im Vergleich zu heute weitaus weniger als vermutet. Das ist die gute Nachricht. Die neuen Erkenntnisse widerlegen alle Schreckensszenarien, denen zufolge der grönländische Eispanzer im Zuge einer Warmzeit vollständig verschwindet. Im Umkehrschluss bedeutet das aber, wenn der Meeresspiegel während des Eems vier bis acht Meter höher lag, dass in der Antarktis mehr Eis abgeschmolzen ist.
Ziel: 1,5 Millionen Jahre altes Eis
Zurzeit wird in der Antarktis eine neue Bohrung abgeteuft, etwa 50 Kilometer entfernt von der früheren am Dome C, Projektname: »Beyond-EPICA Oldest Ice«. »Im Januar nächsten Jahres, wenn das internationale Team auf dem Fels angekommen ist, hoffen wir, 1,5 Millionen Jahre altes Eis auf dem Tisch zu haben«, sagt Johannes Freitag. Er sei etwas nervös, weil die obersten 1600 Meter in der nächsten Woche im Alfred-Wegener-Institut geschnitten werden. »In der Zeit vor dem Eem wechselte die Klimavarianz in größeren Zeiträumen. Das zu erkennen ist wichtig, weil wir dann in unseren Modellen testen können, wie das Klimasystem der Erde funktioniert.«
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