Onkel Horst in Niechorze

Die nd-Kolumnistin schwimmt an der polnischen Ostseeeküste und erinnert sich an ihre Magdeburger Kindheit

Am Strand von Niechorze
Am Strand von Niechorze

Im Urlaub fuhr Onkel Horst nie ans Meer. Er angelte, wo er lebte, in der Auenlandschaft zweier großer Flüsse. Wenn er auf Montage arbeitete, schlief er oft bei uns in Magdeburg. Nachts schrie er manchmal Tooor! Dann hatte unser FCM getroffen, erklärte er mir. Und dass wir die Größten der Welt sind. Onkel Horst sah mit seinen Koteletten aus wie Axel Tyll, der wurde mein blau-weißer Lieblingsspieler. Als ich sieben war, durfte ich einmal mit ins Stadion. Hand in Hand kletterten wir dem brodelnden Kessel entgegen. Ich sah Axel Tyll spielen, wir holten den Europapokal. Bald danach legte sich der FCM schlafen, als er wieder erwachte, lebte Onkel Horst nicht mehr.

Ich stehe unter einer Steilküste mit Leuchtturm drauf und schaue aufs Meer. Der polnische Urlaubsort Niechorze ist malerisch gelegen. Landwärts hat er einen See im Rücken und versteckt Hotels, Bungalows und Zeltplatz im Wald. Vorne ist das Meer. Der hellgraue Sand überzieht eine enorme Strandbreite, alle sechzig Meter ragen Buhnen in die See. Im Seebad Horst, wie Niechorze bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs hieß, stand vor 100 Jahren eine riesige Holzkonstruktion. Die Badeanstalt.

Über Wasser

Anne Hahn ist Autorin von Romanen und Sachbüchern und schwimmt für »nd« durch die Gewässer der Welt.

Lange wate ich durch die Brandung ins Wasser hinaus. Als es mir endlich an die Oberschenkel reicht, werfe ich mich hinein. Es ist eisig, meine Stirn brennt vor Kälte. Durch die Schwimmbrille sehe ich im aufgewirbelten Sand eine Feuerqualle vorbeischweben. Ich weiche aus und schwimme zweimal zwischen den Buhnen hin und her. Stehe zitternd auf, halte mich gerade im Wellengetöse. Kaum jemand ist im Wasser, alles tummelt sich am Strand. Bei knapp 30 Grad.

Menschen, Vögel und Hunde. Auf die beträchtliche Anzahl an Saatkrähen, Möwen und Enten, die auf den Buhnen und am Strand lümmeln, kommt locker jeweils ein Hund. Von Handtaschen- bis Kalbsgröße. Jeder Wassersaum-Spaziergang gerät zum Slalom. Es ist Anfang September. Die Schulkinder sind weg, die Hüpfburg ist eingesunken, Traktoren sammeln die Bademeister-Hochsitze ein, von den Restaurants, Eisläden und Verkaufsständen hat bereits die Hälfte geschlossen. Museum und Leuchtturm haben noch auf. Dort schieben Massen entlang. Jede Tageszeit hat ihre Meute, abends sitzen die Sundowner-Fans mit Fläschchen am Strand. Das Meer betört alle. Neuankömmlinge blinzeln und holen tief Luft, kleinen klappt der Mund auf, noch kleinere jauchzen. Drin sind die wenigsten.

Wir haben ein Appartement für drei Nächte gebucht, ein paar Schritte vom Seebad Horst entfernt. Kurz vor dem Dünenübergang finde ich einen Bernstein, wo der Wind die Traktorspur schleift. Glücklich streife ich den Strand entlang. Im Museum habe ich eine alte Ansichtskarte entdeckt und suche die Stelle, wo die Badeanstalt gestanden haben mag. Damals führte eine Rutsche aus luftiger Höhe vom Pfahlbau des Familienbades ins Meer. Da vorn ist sie. Ich klettere auf die Bohlentreppe im Seebad Horst und bin sieben Jahre alt. Onkel Horst beugt sich so weit zu mir herunter, dass mich seine Koteletten kitzeln und sagt, »Mach die Augen auf, Sternchen, und schau, da liegt die blau-weiße Welt vor dir!«

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