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Technologie ist, was sie erreichen soll
Die Bundesregierung setzt auf Überwachungstechnologien und ein härteres Grenzregime. Aber Technologie kann auch migrantische Emanzipation stärken
Nach der Messerattacke von Solingen hat die Bundesregierung ihren Anti-Migrationskurs verschärft. Zu den beschlossenen Maßnahmen gehören neben Leistungskürzungen und strengeren Regeln für Asylsuchende auch mehr Kompetenzen für Ermittlungsbehörden. Diese sollen nun Internetdaten zur Gesichtserkennung abgleichen dürfen sowie Künstliche Intelligenz (KI) zur Datenanalyse trainieren und einsetzen können. Außerdem sieht der dazugehörige Gesetzentwurf Stimmerkennung im Internet vor. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) wird biometrische Daten ebenfalls auswerten dürfen, um die Identität von Schutzsuchenden festzustellen.
Wirtschaftsstaatssekretärin Anja Hajduk (Grüne) spricht von einer »zeitgemäßen Regelung«. Kritiker*innen sehen in den neuen Befugnissen eine Ausdehnung staatlicher Überwachung. So hatten deutsche Polizeibehörden 2020 Zugang zu nur 5,8 Millionen Gesichtsbildern, wie aus einer damaligen Anfrage an die Bundesregierung hervorging. Zum Vergleich: Die auf Gesichtserkennung spezialisierte US-Firma Clearview verfügte im selben Jahr bereits über drei Milliarden, 2022 sogar über 20 Milliarden Porträtfotos und verfolgt das Ziel, »fast jeden auf der Welt« identifizieren zu können. Die neuen Maßnahmen könnten polizeiliche Datenbanken in solchen Dimensionen nun möglich machen. Der Chaos Computer Club spricht in diesem Sinne von einem »biometrischen Überwachungsexzess«, der »faktisch Anonymität beenden und uns alle immer und überall identifizierbar machen« werde.
Anhaltender Rechtsruck
Mit den jüngsten Beschlüssen folgt die Ampel-Koalition einem anhaltenden Rechtsruck im öffentlichen Diskurs nach. Studien zeigen, dass immer mehr Deutsche und Europäer*innen migrationsfeindliche Positionen vertreten. Bundeskanzler Olaf Scholz forderte letztes Jahr Abschiebungen im großen Stil. Innenministerin Nancy Faeser ordnete jetzt Kontrollen an allen deutschen Grenzen an, Start 16. September. Die Union erklärte die Vorschläge indes für unzureichend, Merz fordert den Einsatz der Richtlinienkompetenz des Kanzlers. Dieser wirft dem Oppositionsführer »Provinzbühnenschauspielerei« vor. Die sogenannte Migrationsdebatte spielt sich vor dem Hintergrund der Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen ab, bei denen die AfD zuletzt historisch gute Wahlergebnisse einfahren konnte.
Dabei steigt die Zahl Abschiebungen schon länger stetig an. Während 2023 schon 27 Prozent mehr abgeschoben wurde als 2022, sind es im ersten Halbjahr 2024 abermals 20 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum. Für Künstlerin Anna Titovets geht es bei der aktuellen Debattenlage nicht um Abschiebungen per se, sondern um die Markierung bestimmter Gruppen: »Migrant*innen sind alle fremd, aber manche sind fremder als andere.«
»Wir wollen einen Raum schaffen, um technologisches Bewusstsein und Selbstermächtigung zu ergründen.«»
Tatiana Bazzichelli Kuratorin
Die kritische Auseinandersetzung mit der Schnittstelle von Technologie und Migration werden Titovets und andere kommendes Wochenende fortführen. Im Rahmen der Konferenz «Hacking Alienation: Migrant Power, Art & Tech», organisiert vom Disruption Network Lab, soll diskutiert werden, wie die «Grenzen der Ausgrenzung» nicht nur kontrolliert und manövriert, sondern durch Solidarität ersetzt werden können, so die Pressemitteilung. Kuratorin Tatiana Bazzichelli kommentiert: «Die Konferenz ist seit fast einem Jahr in der Planungsphase. Seitdem haben wir gesehen, wie die repressive und allgegenwärtige Nutzung datenbasierter Technologien zunimmt, etwa um Zivilist*innen in Gaza zu überwachen oder die Zivilgesellschaft durch repressivere Sicherheitsmaßnahmen zu kontrollieren, wie in Deutschland und Europa. Wir wollen über diese Themen aufklären und einen Raum schaffen, um technologisches Bewusstsein und Selbstermächtigung zu ergründen.»
Datenüberwachung in der Kritik
Ob Datafizierung, «Second Machine Age» oder Überwachungskapitalismus – die Digitalwerdung der Welt wurde von liberaler Seite bereits mit vielen Begriffen und Reformvorschlägen versehen. Aber schon lange vor dem, was Klaus Schwab als Anfang einer vierten industriellen Revolution bezeichnete, prophezeite der französische Poststrukturalismus diese Entwicklung. So zeichnete etwa der Philosoph Michel Foucault 1975 das Bild einer Disziplinargesellschaft, in der panoptische – allsehende – Überwachungsmechanismen zu Machthierarchien führen. Daran anknüpfend diagnostizierte Gilles Deleuze einen Übergang von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft. Der Marxismus hat ebenfalls eine lange Tradition der weltverändernden Kritik, die zum Beispiel auch die Stellung von ausgebeuteter Arbeitskraft im Datenkapitalismus begreifbar macht.
Auch heute meldet die Wissenschaft hinsichtlich der Lernalgorithmen, die der KI-basierten Gesichtserkennung zugrunde liegen, weitreichende Bedenken an. Häufig thematisiert wird die Weitergabe rassistischer Vorurteile durch künstliche Intelligenz. Milagros Miceli, Forschungsgruppenleiterin am Weizenbaum Institut und Panelistin bei der «Hacking Alienation»-Konferenz, fügt in einem Aufsatz hinzu, dass es beim Trainieren von KI-Datenbanken nicht nur um Vorurteile, sondern um Macht gehe. Man müsse auch historische Ungerechtigkeiten (inequities), Arbeitsbedingungen, und erkenntnistheoretische Standpunkte beachten. «Der vermehrte Einsatz von umfassenden Datenbanken und KI-basierter Gesichtserkennung in der Polizeiarbeit ignoriert die wissenschaftliche Kritik an biometrischer Datenverarbeitung als diskriminierend und undurchsichtig», kommentiert Laurenz Sachenbacher, seinerseits in der Forschungsgruppe tätig.
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Das Inkrafttreten des EU Artifical Intelligence Act, der KI auf EU-Ebene regulieren soll, wird von AlgorithmWatch als ein «bescheidener Schritt nach Vorne» bezeichnet. Das Gesetz greife aber weder in den Bereichen Militär und nationale Sicherheit, noch in der Migration. Genau hier wagt die Ampel nun den umstrittenen Kompetenzausbau. Dazu Sachenbacher: «Der jüngste Vorschlag der Bundesregierung reiht sich in einen derzeitigen Trend ein, für angebliche Sicherheitsfragen reglementierungsbedürftige Technologien zu normalisieren. Ob Google oder der Staat – mehr Überwachung wird weder zu mehr Sicherheit noch zu mehr Freiheit führen.» Wolle man stattdessen für eine «ethische KI» kämpfen, argumentiert Miceli in der Zeitschrift «Noema», müsse man die ausgebeuteten Beschäftigten organisieren: «Während die Öffentlichkeit durch das Schreckgespenst nichtexistierender empfindungsfähiger Maschinen abgelenkt wird, steht hinter den vermeintlichen Errungenschaften künstlicher Intelligenzsysteme heute ein Heer von prekarisierten Arbeitskräften.»
Emanzipatorische Technologie
Eine andere Vision von Technologie wollen die Teilnehmenden der «Hacking Alienation»-Konferenz entwickeln. Keynote-Sprecherin Titovets sagt auf Nachfrage: «Heutzutage sind Technologien fast allgegenwärtig, und so können und sollten sie natürlich eines der Werkzeuge für die Stärkung und Emanzipation von Migrant*innen sein.» Das könne ganz konkrete Ansätze beinhalten, wie «empathische Chatbots, Social-Media-Gruppen und themenorientierten digitalen Gemeinschaften bis hin zu einigen hacktivistischen digitalen Initiativen, die gegen algorithmische Diskriminierung kämpfen» – all das seien «notwendige Bestandteile des Überlebenswerkzeugs von Migrant*innen».
Performance und Digitalkünstler*in allapopp wird auf der Konferenz gleich zwei Mal auftreten. Auf dem Podium und in einem Workshop mit Dinara Rasuleva sollen technologische Zukünfte dekonstruiert und eine kritische, postkoloniale Imagination der Technologie erprobt werden. Für allapopp «hat emanzipatorische Technologie einen dekolonialen Geist, der eben jene Machtstrukturen in Frage stellt, die sonst technologisch verstärkt werden könnten». Weiter: «Anstatt marktgetriebener Optimierung oder Mainstream-Science-Fiction-Visionen zu folgen, erzählt sie ihre Zukunft auf der Grundlage von Sinnen wie Geruch, Berührung und Rhythmus. Solche emanzipatorische Technologie ist verwurzelt in der Sorge um alle menschlichen Körper und um alle anderen Arten und Elemente der natürlichen Welt.»
Die Dekolonisierung von KI-Technologien und die Subversion von migrantischer Entfremdung soll außerdem von Panelist*innen wie Marwa Fatafta, Moro Yapha und Nyima Jadama thematisiert werden. Kuratorin Bazzichelli betont die Wichtigkeit solcher Räume und Debatten in der aktuellen Situation: «Es ist gut, dass wir in die Debatte um Unterdrückungs- und Diskriminierungssysteme in Deutschland und weltweit intervenieren können, indem wir bei Hacking Alienation Aktivist*innen, Künstler*innen und Medienexpert*innen mit Migrationshintergrund zusammenbringen.» Seit Ende der 1990er Jahre beschäftigt sie sich in Italien und Deutschland mit Kunst, digitaler Kultur und sozialer Gerechtigkeit und kennt die Schattenseiten von technologischer Innovation: «Gleichzeitig müssen wir verstehen, dass Technologie niemals neutral ist, sondern stets Spiegel kultureller und gesellschaftlicher Probleme. Wir müssen sie uns kreativ und solidarisch aneignen, um Entfremdung zu überwinden.»
Die Konferenz «Hacking Alienation. Migrant Power, Art und Tech» findet am 21./22. September im Kunstquartier Bethanien in Berlin-Kreuzberg statt. Weitere Informationen und die Tickets zur Teilnahme sind zu finden unter www.disruptionlab.org.
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