Göttingen übernimmt Schrottimmobilie

Mit dem Erwerb von Apartments und Umsiedlungen entzieht die Stadt ein vernachlässigtes Haus dem privaten Markt

  • Reimar Paul
  • Lesedauer: 5 Min.
Spiegel-TV berichtete in mehreren Dokumentationen über die unhaltbaren Lebensverhältnisse im Göttinger Apartmenthaus am Hagenweg.
Spiegel-TV berichtete in mehreren Dokumentationen über die unhaltbaren Lebensverhältnisse im Göttinger Apartmenthaus am Hagenweg.

Ratten und Kakerlaken, kaputte Fenster und nicht funktionierende Toiletten, Müllberge in den Fluren und vor dem Gebäude: Göttingens Problem-Immobilie Nummer eins, das Haus Hagenweg 20 in der Weststadt, steht für Verwahrlosung und sozialen Abstieg. Berichte darüber schaffen es deshalb immer wieder auch in überregionale Medien. Neben anderen Fernsehformaten berichtete »Spiegel TV« wiederholt über die Missstände und sorgte mit der halbstündigen Reportage »Göttingen ganz unten« bundesweit für Aufsehen.

Auch in den vergangenen Kommunalwahlkämpfen war das Gebäude stets ein großes Thema. Da prangerten Lokalpolitiker*innen nahezu aller im Rat vertretenen Fraktionen von CDU bis Linken einmütig die Zustände in dem Apartmenthaus an und versprachen Verbesserungen. Es geschah aber nichts oder nur wenig, teilweise auch wegen der teils undurchsichtigen und verschachtelten Besitzverhältnisse in dem Haus. Zwar wurden fleißig Ratsanträge und -anfragen geschrieben, doch viele versandeten in den Ausschüssen. Erst jetzt ist Bewegung in die Sache gekommen.

Es geht auch anders

Der tägliche Strom an Nachrichten über Krieg, Armut und Klimakrise bildet selten ab, dass es bereits Lösungsansätze und -ideen, Alternativprojekte und Best-Practice-Beispiele gibt. Wir wollen das ändern. In unserer konstruktiven Rubrik »Es geht auch anders« blicken wir auf Alternativen zum Bestehenden. Denn manche davon gibt es schon, in Dörfern, Hinterhöfen oder anderen Ländern, andere stehen bislang erst auf dem Papier. Aber sie zeigen, dass es auch anders geht.

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Denn fußend auf einem Ratsauftrag hat die Stadtverwaltung in den vergangenen Monaten nach und nach 152 der 165 Wohnungen in dem heruntergekommenen Komplex gekauft. Die kleinen Ein- bis Zweizimmer-Apartments verteilen sich auf bis zu sechs Etagen und bieten gut 4000 Quadratmeter Wohnfläche. In städtischer Hand sind nun auch 50 von 64 Garagenstellplätzen.

119 der von der Stadt erworbenen Wohnungen waren im Sommer von der bisherigen Mehrheitseigentümerin »Seil Real Estate« über ein Onlineportal zum Verkauf angeboten worden. Der Kaufpreis wurde damals mit 2,6 Millionen Euro angegeben. Die jährlichen Mieteinnahmen für die zum Verkauf stehenden Wohnungen sollten den Angaben zufolge bei 212 000 Euro liegen – in den meisten Fällen zahlte die Stadt selbst die Miete als Transferleistung für die Bewohner. Zuletzt lag der aufgerufene Kaufpreis für das 119-Wohnungen-Paket noch bei 2,26 Millionen Euro. Wie viel Geld die notorisch klamme Kommune tatsächlich für die Wohnungen bezahlt hat, ist nicht bekannt.

»Für die Eigentümer war der Hagenweg 20 bislang eine sichere Bank«, sagt Göttingens Oberbürgermeisterin Petra Broistedt (SPD) und spricht von einem Paradigmenwechsel. »Unter welchen Bedingungen die Menschen dort leben, spielte für sie allenfalls eine untergeordnete Rolle.« Die Eigentümer hätten bis dahin stets nur das Nötigste gemacht, damit die Immobilie nicht als unbewohnbar eingestuft werden könne. »Doch diese Zeiten sind vorbei. Wir wollen das Heft in die Hand nehmen und die Sanierung vorantreiben, vor Ort gestalten und die Lebenssituation der Menschen verbessern, dafür braucht es Mut, als Stadtverwaltung auch neue Wege zu gehen.«

Die Stadt Göttingen hat bereits viele der Bewohner des Hagenwegs 20 in bessere Wohnungen vermittelt und vermietet die von ihr aufgekauften Apartments nicht mehr, um später sanieren oder abreißen zu können.
Die Stadt Göttingen hat bereits viele der Bewohner des Hagenwegs 20 in bessere Wohnungen vermittelt und vermietet die von ihr aufgekauften Apartments nicht mehr, um später sanieren oder abreißen zu können.

Mittelfristig will die Stadt auch die noch in Privatbesitz befindlichen 13 Apartments und Garagenstellplätze kaufen. Sie verteilen sich auf elf Eigentümer. Mit drei von ihnen befinde man sich in Verhandlungen, berichtet Broistedt. Die verbliebenen acht Eigentümer seien bereits Gerichtsfälle, da sie ihren finanziellen Verpflichtungen wie Zahlung des Hausgeldes und der erforderlichen Umlagen nicht nachkämen. »Dazu sind wir in engem Kontakt mit dem Verwalter und wir hoffen, einen Fuß in die Tür zu bekommen, bevor diese Wohnungen in die Zwangsversteigerung gehen.«

Die Stadt kann die Immobilie erst abreißen oder umfassend sanieren lassen, wenn sie alleinige Eigentümerin ist. Welche weiteren Kosten dabei entstehen, ist noch völlig offen. Es gebe noch keine Schätzung, weder für eine Sanierung noch für einen Abriss, räumt Broistedt ein.

Göttingens Sozialdezernentin Anja Krause zeigt sich zufrieden mit dem bislang Erreichten: »Unsere Anstrengungen haben sich für jedes Kind, dass jetzt und in Zukunft nicht mehr in dem Komplex wohnen muss, gelohnt.« Der Stadt sei es gelungen, die »Nachzugsspirale« zu durchbrechen. »Kaum war früher eine Wohnung leer, war sie sofort wieder neu vermietet worden. Die Stadt vermietet ihre leerstehenden Wohnungen jetzt nicht mehr.«

»Für die Eigentümer war der Hagenweg 20 bislang eine sichere Bank. Unter welchen Bedingungen die Menschen dort leben, spielte für sie allenfalls eine untergeordnete Rolle.«

Petra Broistedt Oberbürgermeisterin von Göttingen (SPD)

In wenigen Monaten sei es gelungen, gut der Hälfte der 145 Bewohner*innen, darunter 36 Kinder, andere Quartiere zu vermitteln. »Wir haben dafür gute Wohnungen gefunden, niemand ist in andere prekäre Immobilien gezogen«, betont Krause. Dass die meisten Umgezogenen dabei in der Nachbarschaft geblieben sind, liege daran, dass viele dort verwurzelt seien, dort einer Beschäftigung nachgehen und daran, dass die Kinder dort Schulen oder Betreuungseinrichtungen besuchen.

Auch im Hagenweg 20 selbst gibt es Krause zufolge Verbesserungen. So habe man das Müllproblem in den Griff bekommen. Im Bereich des Gebäudekomplexes lag jede Menge Sperrmüll herum. Inzwischen stehen auch größere Müllbehälter zur Verfügung. In Absprache mit den Göttinger Entsorgungsbetrieben wurden die Abholzeiten verbessert worden. Außerdem gab es Trainings zur Müllentsorgung. Auch werde inzwischen regelmäßig das Ungeziefer im Gebäude bekämpft. Zudem habe die Stadt einen Raum zum Waschen und Trocknen der Wäsche in dem Gebäude eingerichtet, der auch als Begegnungsraum genutzt werde.

Taugt das Vorgehen der Stadtverwaltung im Hagenweg als ein Modell für zwei andere »Problem-Immobilien« in Göttingen? »Nein, erst mal nicht«, sagt Bürgermeisterin Broistedt. In diesen beiden Gebäudekomplexen gebe es deutlich mehr Wohneinheiten und auch viel mehr Eigentümer: »Wir würden uns als Stadt finanziell und personell übernehmen, wenn wir das jetzt in der Form angehen.«

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