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Palästina: »Wir fühlen uns ausgeliefert«
Deeb Al-Qumsans Sohn wurde von einer israelischen Drohne beschossen. Jetzt ist er gelähmt und müsste operiert werden. Das kann nur im Ausland erfolgen
Wie kam es zu dem Drohnenangriff auf Ihren Sohn?
Es war eigentlich ein ruhiger Moment. Qais saß auf einem kleinen Stuhl vor unserem Zelt, Jussef saß direkt vor ihm am Boden und spielte. Beide sahen auf, als der Quadcopter auftauchte. Er hatte ursprünglich Jussef ins Visier genommen.
Woran merkt man das?
Manchmal fliegen Drohnen ziellos herum, manchmal geben sie Warnschüsse ab, diese aber stand sehr ruhig in der Luft. Nachbarn beschrieben es. Sie muss auf Jussefs Kopf gezielt haben, denn der war genau in der Höhe von Qais’ Brust. Qais hatte sich im Moment des Schusses runtergebeugt, um seinen Bruder zu schützen. Das Schlimme ist: Auch Jussef erinnert sich an alles.
Anmerkung der Redaktion: Quadcopter sind besonders zielgenaue Drohnen. Ursprünglich zu Aufklärungszwecken genutzt, zum Kartografieren, um sich ein klares Bild von einer Situation zu machen. In diesem Krieg wurden sie von der israelischen Armee aber mit Schusswaffen ausgestattet, was ein Verstoß gegen das Völkerrecht ist. Kampfdrohnen dürfen nur gegen Zivilisten eingesetzt werden, wenn sie sich ganz klar an kämpferischen Handlungen beteiligen. Auch dann ist die Armee verpflichtet, Verletzte medizinisch zu versorgen.
Deeb Al-Qumsan (31) hat mit seiner Frau Rola (30) in Gazas Innenstadt gelebt. Als die israelische Armee die Stadt evakuierte, mussten sie mit ihren Söhnen Qais (8), Jussef (5) und Mahmud (1) flüchten. Derzeit lebt die Familie in Nuseirat. Das Interview entstand über einen längeren Zeitraum mittels Chat und Videoschaltung. Manche Fragen beantwortete Deeb Al-Qumsan auch schriftlich.
Kam denn medizinische Hilfe?
Natürlich nicht. (Stille; er ist um Fassung bemüht) Das sind ja auch wohl keine militärischen Operationen. Wer da geschossen hat, war vielleicht außer sich; vielleicht betrunken, einer, der nach Feierabend spielen wollte. Vielleicht nicht, um zu töten, aber eben um zu spielen. Was sonst wäre der Sinn dahinter?! (Stille) Das hat uns in einem Wirbelsturm allein zurückgelassen.
Die unabhängige Plattform »Euromed Monitor« hat viele gezielte Angriffe auf Kinder und Jugendliche dokumentiert und ging auch Gerüchten nach, die israelische Armee setze Drohnen ein, die mit Lautsprechern ausgestattet sind und Menschen aus ihren Unterkünften herauslocken, indem sie Hilferufe von Frauen abspielen und Babygeschrei. Ist das ein Gerücht?
Ich habe auch davon gehört, aber in der Zeit, als das im Lager Nuseirat passiert sein soll, war ich in einem anderen Lager in Rafah. Ich habe aber einen Freund, der auf eine andere Variante beinahe hereingefallen wäre: Da wurde nicht um Hilfe gerufen, sondern die Drohne habe mit Zigaretten im Angebot geworben: »Cigarettes, one Schekel!« Das ist sehr billig. Eine Zigarette kostet zur Zeit 200 Schekel (fast 50 Euro, Anm. d. Red). Er war in seinem Zelt und hatte sofort Zweifel. Er dachte sofort an eine Falle, aber am Ende sei die Gier so groß geworden, dass er doch aus dem Zelt rannte. Es fielen Schüsse, aber anderswo.
Welche Eindrücke sind von dem Drohnenangriff hängengeblieben?
Vieles hat sich in meine Erinnerung eingebrannt. Die sich hinziehende Fahrt im Krankenwagen, der Stau auf der Straße, das nervige Geräusch des Krankenwagens und das Schwanken im Auto. Ich hatte Angst, dass Qais stürzt oder sich seine Blutung verstärkt. Ich hatte das Gefühl, dass die Seele seinen Körper immer wieder verlässt und wieder zurückkehrt.
Es vergeht so viel Zeit im Rettungswagen, dass man irgendwann auch seine Umgebung genauer wahrnimmt. Da waren noch vier andere Patienten im Wagen. Ein Kind mit wirklich heftigen Knochenbrüchen und ein Vater, der ebenfalls seinen Sohn begleitete, der sehr schlimme Infektionen am ganzen Leib hatte. Und eine alte Frau, die nicht begriff, wohin es geht. Und immer wieder fragte: Wohin fahren wir? Wo bin ich hier?
Sie sind dann ins Al-Aqsa-Märtyrer-Spital nach Deir Al-Balah gekommen.
Fast jeder Augenblick im Krankenhaus war ein Schock. Erst war ich hoffnungsvoll, als der zuständige Arzt entschied, eine Computertomografie (CT) zu machen. Und erleichtert, dass man ihn gründlich untersuchen würde. Für das CT mussten wir in ein anderes Hospital fahren. Im Jaffa-Krankenhaus brachte man uns sofort zum Röntgen. Ich half, Qais in das Gerät zu heben. Das war alles im Keller, und es sah für Qais aus wie eine Höhle oder ein Ofen. Auch mein Herz schlug wie wild. Ich sagte ihm: Warte und bleib ruhig, bis die Untersuchung vorüber ist. Aber erkläre das einem Kind, das Panik hat. Der erste Scan war dann vorüber, ein zweiter wurde gemacht. Dazu mussten wir seine Arme auf seinen Kopf legen. Während des Scans hörte ich, wie der Techniker der Krankenschwester sagte, dass Qais einen Schnitt im Rückenmark und Verletzungen zwischen dem 10. und 11. Wirbel hat.
Ich stand unter Schock. Erst da hatte ich begriffen, dass die Kugel tatsächlich durch die Wirbelsäule gegangen war, denn auf den Röntgenbildern hatte man das Ausmaß des Schadens nicht gesehen. Mir wurde gesagt, dass ich warten sollte, um wieder zurück zum Al-Aqsa-Märtyrer-Hospital zu fahren. Ich erinnere mich nicht an diese Fahrt, ich stand unter Schock, und man erzählte mir später, dass ich geweint habe. Im Anschluss sagten die Krankenschwestern aber, da seien wohl keine Schnitte in der Wirbelsäule zu sehen: »Die Ärzte werden Euch das genauer erklären.« Also warteten wir. Einige der mit mir Wartenden weinten, andere nicht, aber die Verzweiflung stand allen ins Gesicht geschrieben. Dein Blick bleibt hängen an Gesichtern, den Linien, die die Tränen hinterlassen haben.
Wie ging Qais damit um?
Er hat fast die ganze Zeit geschlafen, aber gerade zu dieser Zeit, als die Verletzten und Leichen eingeliefert worden sind, wurde er wach und hörte auch die folgenden Explosionen. Er streckte die Hand aus, wollte in den Arm genommen werden, musste aber ruhig liegen. Er sagte: »Papa, ich habe Angst. Ich möchte nicht im Krankenhaus bleiben.« Ich bat die Pfleger, ihm Schmerzmittel zu geben und ein Beruhigungsmittel, damit er schlafen konnte.
Sie sind jetzt schon mehr als eine Woche im Krankenhaus. Wie sieht die Behandlung aus?
Er bekommt Schmerzmittel, wenn er es gar nicht mehr aushält. Er kann sich unterhalb der Schultern nicht bewegen und bräuchte dringend ein Korsett, das die Wirbelsäule stabil hält, solange er nicht operiert werden kann. Wir müssen ihm Luft zufächeln, es ist heiß hier. Er muss liegen, und seine Arme schmerzen fürchterlich. Wir müssen ihn drehen, obwohl das gefährlich ist. Jede Bewegung ist ein Risiko. Aber wir müssen das tun, sonst liegt er sich wund, und Wunden infizieren sich schnell. Nichts ist hier steril oder hygienisch.
Rola, die Mutter, sagt aus dem Hintergrund:
»Ich versuche, ihm ein Korsett zu nähen. Das ist nicht professionell, aber es wird ihm passen.«
Wie halten Sie das alles aus?
Ich lese im Koran.
Eine bestimmte Stelle?
Rola: Die Sure Ya-Sin.
Rund 40 Einrichtungen haben sich bereit erklärt, Kinder aus Gaza, die dringend eine medizinische Versorgung brauchen, in Deutschland zu behandeln. Auch die Kosten wollen sie dafür übernehmen. Im Juli scheiterte das Vorhaben aber, weil das Auswärtige Amt und das Bundesinnenministerium die verwundeten Kinder nur ohne Begleitpersonen aufnehmen wollten, da mitreisende Eltern asylberechtigt wären. Außerdem hat man Angst, Hamas-Sympathisanten ins Land zu holen.
Hilfsorganisationen und Ärzte aus Deutschland lehnen es jedoch ab, dass die Kinder allein reisen. Sie halten es für notwendig, dass eine Begleitperson das Kind unterstützt und wichtige Entscheidungen mit trifft. Das Auswärtige Amt ist im Gespräch mit dem Bundesinnenministerium um eine Lösung bemüht. Inzwischen sollen dem Vernehmen nach Begleitpersonen zugelassen werden – vorausgesetzt, dass sie den Sicherheitsanforderungen entsprechen.
Im Gazastreifen wurden unterdessen Listen für Kinder angefertigt, die für eine Behandlung im Ausland infrage kämen. Entsprechende Namen gehen erst ans Hamas-geführte Gesundheitsministerium. Auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und Nichtregierungsorganisationen führen eigene Listen. Mehrere Länder haben bereits verwundete Kinder aufgenommen, darunter die Vereinigten Arabischen Emirate, Italien und Ägypten. ms
Anm. d. Red.: Die Sure Ya-Sin wird bei Begräbnissen rezitiert. Die Verse sollen den Gläubigen Trost spenden und in ihnen die Hoffnung auf die Barmherzigkeit Gottes wecken.
Stimmt es, dass Ihre Frau ihren Sohn anfangs lange nicht besuchen konnte?
Deeb: Rola musste bei Jussef bleiben und Mahmud, er ist anderthalb Jahre alt. Aber auch später war ich die meiste Zeit hier im Krankenhaus. Sie hatten ihn in ein Zwölf-Bett-Zimmer gelegt voller Männer. Eine Frau kann da nicht über Nacht bleiben. Also habe ich dort geschlafen.
Die Station sieht wie ein großes Durchgangszimmer aus.
Das Krankenhaus ist total überlastet. Es ist wie eine Miniaturwelt, ein Kosmos fast wie Gaza selbst. Überfüllt, ausweglos. Nichts funktioniert. Man muss eigene Wege finden. (Anm. d. Red.: Nur 15 von 35 Stationen sind mehr oder weniger funktionstüchtig. Das Al-Aqsa-Märtyrer-Krankenhaus ist für 166 Patienten gedacht. Jetzt liegen 600 Menschen dort.)
Welche Begebenheiten blieben Ihnen am stärksten in Erinnerung?
Das war, als mein Sohn große Angst vor einer Spritze hatte, als ich ihn nur beruhigen konnte, indem ich ihm erklärte, dass er die Spritze eh nicht spüren würde, weil er alles unterhalb der Brust nicht fühlen könnte. Er war vorher wie aufgelöst und hatte große Angst. Als der Arzt schließlich wiederkam, war Qais’ Panik ins Gegenteil umgeschlagen. Ich hatte ihn überzeugt. Er lachte jetzt und verlangte nun sogar die Spritze. Er war so stolz. Aber ich musste weinen, weil mein Sohn jedes Gefühl verloren hatte, und er freute sich, fühlte sich plötzlich stark und sagte überglücklich: »Papa, ich habe da keine Schmerzen.«
Wie lang hielt diese Freude?
Nicht lang. Er fühlt sich ohnmächtig und ausgeliefert. Wir auch. Und selbst die Ärzte. Sie können nicht operieren. Vielleicht könnten sie es, aber sie wollen es nicht verantworten, weil die Nachsorge nicht gesichert ist. (Anm. d. Red.: Viele Patienten sterben an Sepsis) Unser Neurologe sagte, ein Transfer ins Ausland sei die einzige Möglichkeit.
Am 25. August wurde Deir Al-Balah erneut von der Luft aus angegriffen, die israelische Armee forderte zur Evakuierung des Krankenhauses auf, eine Rückkehr war für Qais danach nicht mehr möglich. Die Familie lebt nun wieder im Flüchtlingslager in Nuseirat. Qais kann im Rollstuhl sitzen, hat jedoch an Gewicht verloren. Ist er zumindest froh, wieder bei seiner Familie zu sein?
Manchmal freut es ihn, die Kinder zu sehen, die er kennt. Aber früher oder später weint er und sagt: »Keiner soll mit mir sprechen. Geht weg von mir!«
Bereuen Sie die Entscheidung, wieder nach Nuseirat gegangen zu sein?
Wir wünschten, wir wären im Krankenhaus geblieben. Jetzt finden wir keines, das ihn nimmt. Im Zelt sind Skorpione, Fliegen. Und Ameisen fressen an seinen Wunden. Wir haben keine Schmerzmittel. Am Tag brennt die Sonne, nachts ist es eisig, und in der Frühe sind unsere Betten nass vom Morgentau. Wir sind jetzt auf der Liste einer englischen Nichtregierungsorganisation und hoffen.
Wer diese Organisation unterstützen möchte: www.saveachild.uk
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