Gaza: »Die hygienischen Umstände sind katastrophal«

Der Notfallmediziner Amar Mardini hat im Al-Aqsa-Krankenhaus im Gazastreifen Verletzte versorgt

Das Al-Aqsa-Krankenhaus nach einem israelischen Angriff in Deir Al-Balah am Sonntag: Das Hospital ist überfüllt; die Verletzten werden teilweise auf dem Boden liegend von Ärzten versorgt.
Das Al-Aqsa-Krankenhaus nach einem israelischen Angriff in Deir Al-Balah am Sonntag: Das Hospital ist überfüllt; die Verletzten werden teilweise auf dem Boden liegend von Ärzten versorgt.

Herr Mardini, Sie haben als Arzt im Gazastreifen bei der Versorgung der Verletzten im Al-Aqsa-Krankenhaus geholfen. Was genau war Ihre Aufgabe?

Mein Team hat die lokalen Kräfte in der Notaufnahme unterstützt. Vor allem, wenn es zu Massenaufkommen von Verletzten kam, zum Beispiel nach einem Raketenangriff oder Artilleriebeschuss. Da kommen dann zwischen zehn und 40 Patienten auf einmal in die Notaufnahme. Da wird jede helfende Hand gebraucht.

Was für Verletzungen behandelten Sie am häufigsten?

Die Verletzungen, die ich hier gesehen habe, habe ich vom Schweregrad ganz selten in Deutschland oder auf anderen Missionen gesehen. Vor allem die Zahl an schwerverletzten Kindern ist hoch. Ich habe Kinder gesehen mit aus der Bauchwand ragenden Darmteilen, amputationsbedürftigen Extremitäten, schweren Schädel-Hirn-Traumata und vor allem auch schweren Verbrennungen. Ich hatte einen Fall, wo eine ganze Familie in die Notaufnahme gekommen ist und der Körper eines ihrer Jungen zu 100 Prozent schwergradig verbrannt war. Wir haben dann knapp zweieinhalb Stunden gebraucht, die verbrannte Haut zuerst zu entfernen und dann wieder zu verbinden. Wenn so etwas passiert, ist die Notaufnahme natürlich überfordert.

Interview

Amar Mardini (34) ist Arzt aus der Nähe von Stuttgart und war mit der Berliner Hilfsorganisation Cadus im Juli und August für sechs Wochen in Gaza. Vorher war er schon als humanitärer Helfer in der Ukraine, in Nordfrankreich und auf Lesbos. In Gaza unterstützte er für drei Wochen die Notaufnahme eines der letzten funktionierenden Krankenhäuser, dem Al-Aqsa-Krankenhaus in Deir Al-Balah. Mittlerweile haben die meisten Patienten und Ärzte das Krankenhaus verlassen, nachdem die israelische Armee am 26. August die Evakuierung nahegelegener Gebiete angeordnet hatte.

Wenn jemand so starke Verbrennungen hat, kann man da überhaupt noch helfen?

Selbst in Deutschland ist die Überlebenswahrscheinlichkeit von so einem Patienten weit unter einem Prozent, obwohl wir spezialisierte Zentren haben. Hier ist diese Wahrscheinlichkeit natürlich noch viel geringer. Ich habe mit einem palästinensischen Kollegen aus der Intensivstation gesprochen. Die haben eine inoffizielle Regel, dass sie Patienten, bei denen mehr als 50 Prozent der Körperoberfläche verbrannt ist, nicht mehr in der Intensivstation aufnehmen, weil das Kapazitäten bindet und die Patienten dann trotzdem an einer Sepsis, also einer Infektion sterben.

Gibt es in den Einrichtungen Gazas ausreichend medizinisches Material?

Nein. Die Notaufnahme hat vielleicht das Nötigste. Aber die hygienischen Umstände in den Abteilungen der Krankenhäuser sind katastrophal. Beispielsweise hieß es eine ganze Woche lang, dass die Chirurgen ohne sterilen Kittel operieren müssen. Es fehlt an allem. Die Patienten liegen auf dem Boden. Al-Aqsa war geplant, für 100 bis 120 Patienten, doch wir hatten mehr als 500. Die Patienten liegen auf den Fluren; es gibt nicht genug Betten, es gibt nicht genug Platz. Regelmäßig fehlen Schmerzmedikamente. Wenn Patienten eine Fraktur haben, die man wieder einrenken oder zumindest in die richtige Position bringen muss, dann wird das ohne Schmerzmittel gemacht. Es fehlt an Beatmungsgeräten. Das Al-Aqsa-Krankenhaus hat zehn Beatmungsgeräte auf der Intensivstation und drei weitere in der Notaufnahme. Ich habe eine Mutter gesehen, die ihr Kind, es war vielleicht drei Jahre alt, bis zum Tod von Hand mit einem Beatmungsbeutel und einem Schlauch in der Lunge beatmen musste, weil wir kein Beatmungsgerät hatten. Das einzige, was wir machen konnten, war am Ende, als wir gesehen haben, dass das Herz aufgehört hat zu schlagen, zu ihr zu gehen und zu sagen, dass sie damit jetzt aufhören könne.

Gab es auch Patienten mit Schussverletzungen?

Regelmäßig. Durch die Explosionen gibt es aber vor allem viele Schrapnell-Verletzungen. Auch bei Kindern. Und bei ihnen ist das noch mal komplizierter. Bei Erwachsenen ist die Brustwand voll entwickelt, bei einem kleinen Kind ist die wesentlich dünner, Kinder haben nicht so viel Muskulatur. Dementsprechend können schon kleinere Schrapnelle die Brustwand durchdringen und die Lunge verletzen.

Woran sterben die Patienten in der Regel, wenn sie nicht gerettet werden können?

Eine kleine Verletzung kann hier tödlich sein, einfach weil die hygienischen Bedingungen katastrophal sind. Wir versorgen blutende Patienten, tragen sie zur Seite, wischen den Platz kurz mit Wasser ab, dann wird der nächste Patient darauf gelegt. Bei dem Raketenangriff in Khan Junis im Juli etwa sind ja 100 Leute direkt gestorben, aber drei- bis viermal so viele verletzt worden. In einem voll ausgestatteten Gesundheitssystem kann man das auffangen, aber hier geht das nicht. Hier stirbt von diesen 300 bis 400 Leuten noch mal ein großer Anteil. Vielleicht nicht direkt im Krankenhaus, aber in der Folgzeit an Infektionen.

Auch die generelle Versorgungslage ist ja ziemlich schlecht. Die Weltgesundheitsorganisation WHO warnt vor einer drohenden Hungerkatastrophe. Wie wirkt sich das aus?

Wir sind vor allem für Traumapatienten zuständig. Akute Unterernährungspatienten würden wir in der Notaufnahme gar nicht sehen. Aber dass ich sie nicht gesehen habe, bedeutet nicht, dass es keine gibt. Es kommt auch darauf an, wo man sich befindet. Wenn die Märkte Deir Al-Balah voll sind und sich die Menschen versorgen können, heißt es nicht, dass sie es in Khan Junis oder vor allem im Norden auch sind.

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Die hohen Todeszahlen aus Gaza werden immer wieder angezweifelt. Haben Sie einen Einblick, wie die Krankenhäuser die Statistiken erstellen?

Was ich in der Notaufnahme mitbekommen habe, ist, dass die Todeszahlen weiterhin vom Gesundheitsministerium (das von der Hamas geführt wird, Anm. d. Red.) erfasst werden. Wie genau das erfolgt, kann ich nicht sagen. Wir erstatten jeden Tag der WHO Bericht, was alle anderen Organisationen auch machen. Aufgrund der vielen Mängel, die ich selbst sehe und dem, was Patienten mir berichten, würde ich sagen, dass die Todeszahlen eher unterschätzt werden. Nicht zuletzt wegen des Ausmaßes an Infektionen und auch wegen chronischer Erkrankungen. Ich habe mit einer Ärztin hier vor Ort gesprochen, die Krebspatienten behandelt. Sie hat erzählt, Patienten hätten keine ausreichende Chemotherapie-Möglichkeit. Es gibt zum Beispiel auch viele Diabetes-Patienten, die kein Insulin mehr haben oder aufgrund der Temperaturen ihr Insulin nicht mehr richtig lagern können. Die kommen dann komatös zu uns in die Notaufnahme. Diese Fälle stehen natürlich auch in Bezug zum Krieg.

Wie wird denn sichergestellt, dass Sie als medizinisches Personal nicht in Kampfhandlungen hereingezogen werden?

Wir haben mit keiner Seite, weder der palästinensischen noch der israelischen, direkten Kontakt. Wir sind jeden Morgen im Austausch mit den Vereinten Nationen. Unser Gästehaus befindet sich in der sogenannten humanitären Zone. Das heißt nicht, dass da nichts passieren kann. Es fliegen trotzdem Raketen, und es gibt Artilleriebeschuss. Sollte die Zone evakuiert werden, haben wir natürlich einen Plan. Wir haben ein zweites Gästehaus, wo wir mit unseren Sachen oder im Notfall einfach nur mit den Autos hinkönnen. Es kann aber immer was passieren. Zum Beispiel, einer Kollegin, die Anfang August im Rahmen einer UN-Mission mit vier gepanzerten Fahrzeugen Richtung Norden aufgebrochen war. An einem Checkpoint ist das letzte Fahrzeug beschossen worden, sie selbst saß in einem anderen. Fünf Schüsse haben das Fahrzeug getroffen, zwei haben es durchschlagen. Die hatten Glück, weil die Hinterbank nicht besetzt war. Nur, weil man einer internationalen Nichtregierungsorganisation angehört, ist man nicht hundertprozentig sicher. Trotzdem fühle ich mich persönlich relativ sicher. Unser Leiter der Mission, Patrick Münz, hat viel Erfahrung aus der Ukraine mitgebracht. Auch im Krankenhaus kümmern sich die lokalen Mitarbeiter sehr um uns und passen auf uns auf. Die Kollegen sind froh, dass wir da sind, weil sie hoffen, dass eine anwesende deutsche NGO vielleicht die Entscheidung für einen Luftangriff oder etwas dergleichen unwahrscheinlicher macht. Das war mir am Anfang gar nicht so bewusst.

Wie funktioniert die Zusammenarbeit mit palästinensischen Ärzten oder dem Gesundheitspersonal?

Die meisten Palästinenser sprechen Englisch. Deswegen ist die Kommunikation mit den ärztlichen Kollegen relativ einfach. Und in unserem Team sind Palästinenser und Palästinenserinnen angestellt, Ärztinnen, Ärzte, Pflegerinnen und Pfleger, die – falls notwendig – übersetzen. Was die Menschen hier leisten, ist unglaublich. Ich habe Leute kennengelernt, die 24-Stunden-Schichten machen, im Krankenhaus schlafen, weil es da kühler ist, zu ihren Familien ins Zelt gehen, essen und abends wieder im Krankenhaus stehen. Und das machen die seit zehn Monaten! Trotzdem ist das Erste, was man von den lokalen Kräften angeboten bekommt, ein Kaffee oder ein Tee. Natürlich sind die Leute erschöpft. Die können nicht mehr.

Was bedeutet das in der Praxis?

Die Kollegen erzählen, sie bräuchten wahrscheinlich alle eine psychologische Behandlung. Viele sagen, sie haben momentan gar nicht die Zeit, das zu verarbeiten. Ein ärztlicher Kollege meinte, dass er lieber im Krankenhaus ist, weil er weiß, er hat nur diese eine Aufgabe am Tag. Wenn er zurückkommt, geht der Stress aber weiter. Sobald sie nach Hause gehen, sind sie ja plötzlich für die Familie zuständig und müssen Wasser holen, vier Stunden lang für Brot anstehen. Das Gesundheitssystem hier ist massiv überlastet. Auch mit einem Waffenstillstand wird sich das nicht von einem auf den anderen Tag ändern. Wir machen das hier fünf oder sechs Wochen, das lokale palästinensische Personal in den Krankenhäusern aber seit zehn Monaten. Für mich sind das Helden. Ich weiß nicht, wie die das schaffen, wie sie jeden Tag die Kraft finden, aus dem Zelt in dieses Chaos im Krankenhaus zurückzugehen und ihre Arbeit zu machen. Das ist unglaublich.

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