»Wir wurden lange mit unserem Kampf allein gelassen«

Nandiuasora Mazeingo von der Ovaherero Genocide Foundation über Konsequenzen aus dem Völkermord

  • Interview: Andreas Bohne
  • Lesedauer: 5 Min.
Ein Vertreter der Ovaherero-Gemeinschaft zeigt Fotos seiner Vorfahren, die vor dem Völkermord nach Botswana flohen.
Ein Vertreter der Ovaherero-Gemeinschaft zeigt Fotos seiner Vorfahren, die vor dem Völkermord nach Botswana flohen.

Am 2. Oktober 2024 jährt sich der Vernichtungsbefehl der deutschen Kolonialherren in Südwestafrika. Welche Bedeutung hat dieser Tag für die Ovaherero als Gemeinschaft?

Der 2. Oktober ist ein denkwürdiger Tag, denn vor genau 120 Jahren brach eine neue Ära an. Es endete das Leben als unabhängiges, souveränes Volk in unserem Land. Und es begann ein Leben der Landlosigkeit, des Exils, des Elends und der Marginalisierung im Land unserer Vorfahren. Dieser Tag hat unsere Welt auf den Kopf gestellt, und wir als Volk haben uns nie ganz davon erholt. 120 Jahre später sind die Narben noch immer so rau und schmerzhaft wie eh und je.

Können Sie das etwas ausführen?

Unser gestohlenes Land haben wir nie zurückbekommen. Überall, wo ich hinschaue, bin ich umgeben von Land, das den Weißen »gehört«. Wir nennen es jedoch »besetzt«. Wir sind immer noch ein Volk mit Gemeinschaften im Exil in Angola, Botswana und Südafrika, weil unser Volk vor einer Armee und einer ganzen Nation geflohen ist, die uns vollständig vom Angesicht der Erde tilgen wollte. Dieser Völkermord hat uns politisch an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Politik ist ein Spiel mit Zahlen. Wir wurden von 100 000 Menschen im Jahr 1904 auf etwa 14 000 dezimiert. Mit 100 000 Menschen wären wir heute eine der mehrheitlichen ethnischen Gruppierungen. Damit wäre die derzeitige Dominanz der Owambo-Mehrheit ausgeglichen worden.

Interview

Nandiuasora »Nandi« Mazeingo ist Vorsitzender der Ovaherero Genocide Foundation (OGF). Diese Plattform mit Mitgliedern in verschiedenen Ländern kämpft für die Anerkennung und Wiedergutmachung des Völkermordes an den Ovaherero durch Deutschland und setzt sich für die Bewahrung der Erinnerung an die Opfer ein.

Derzeit findet anlässlich des Jahrestags eine einwöchige Konferenz und kulturelle Veranstaltung in Swakopmund statt, die Sie maßgeblich organisieren. Was ist Ihr Ziel?

Auf der einen Seite ist die Konferenz eine politische Plattform. Wir wollen, vor allem gegenüber Deutschland, aber auch der ganzen Welt, daran erinnern, dass wir überlebt haben und dass wir jetzt Gerechtigkeit einfordern. Wir haben die »Gemeinsame Erklärung«, die 2021 zwischen Namibia und Deutschland vereinbart wurde, abgelehnt, weil es für uns ein unzureichendes Paket ist. Aber ehrlich gesagt haben wir noch nicht behandelt, was wir als ein angemessenes Wiedergutmachungspaket ansehen würden. Auf der anderen Seite geht es auch um Gedenken und Erinnern. Das ist eines der zentralen Instrumente für den Wiederaufbau einer Gemeinschaft. Unsere Leute versammeln sich mindestens ein- bis zweimal im Jahr, um ihre Überzeugungen zu erneuern und sich für Gerechtigkeit einsetzen. Wir wissen, dass dieses Kapitel in der offiziellen Darstellung des modernen Staates Namibia bewusst vernachlässigt wird.

Sie haben die Diaspora in Südafrika, Botswana und Angola erwähnt. Wie schaffen Sie es, länderübergreifend zu arbeiten?

Diese Länder haben künstlichen Grenzen, die mitten durch das Land der Völker gezogen wurden. Als die Deutschen schon vor dem Völkermord damit begannen, Menschen zu vertreiben und in das Land der Ovaherero einzudringen, hatte unser Volk bereits Kontakte in das heutige Botswana. Es gab also bereits Familien, die das Land vor dem Völkermord und noch vor dem Ausbruch des Krieges verließen. Es gibt Führer in Botswana und in Südafrika, die für diese Gemeinschaften verantwortlich sind. Auch die Ovaherero, die jetzt in der nördlichen Hemisphäre leben, behalten immer noch die Verbindung zum Mutterland.

Auch die Nama, die sich dem Krieg angeschlossen hatten, wurden seinerzeit gezielt getötet und mussten unglaubliches Leid durch Hunger, Kälte und Tod ertragen. Wie arbeiten Sie mit deren Gemeinschaft zusammen?

Die Deutschen wussten, dass die Ovaherero und die Nama die beiden dominierenden Gruppen waren, dass sie, wenn sie die Kontrolle über die Kolonie übernehmen wollten, uns neutralisieren mussten. Deshalb richteten sich die beiden einzigen Vernichtungsbefehle, die es in diesem Teil der Welt gibt, gegen uns. Wir wussten damals wie heute, dass wir die Allianz mit den Nama brauchten. Ob bei Petitionen oder Gerichtsverfahren, wir arbeiten eng zusammen. Wir fragen uns, was ist ein gemeinsamer Standpunkt und was nicht? Im Großen und Ganzen stimmen unsere Positionen überein. Es geht um verlorene Menschenleben. Es geht um gestohlenes Vieh. Es geht um besetztes Land. Es geht um ein generationenübergreifendes Trauma.

Sie lehnen die »Gemeinsame Erklärung« zwischen der deutschen und der namibischen Regierung ab. Welche Forderungen stellen Sie?

Wir fordern, dass diejenigen, die regieren, zum Volk gehen und sein Mandat einholen müssen. Die in Namibia regierende Swapo ist nie zu uns gekommen, um uns um ein Mandat zu bitten, für uns zu sprechen. Wir wurden lange Zeit mit unserem Kampf allein gelassen. Erst als die Deutschen durch unseren Druck und durch die internationalen Bemühungen sich rührten, beschloss die namibische Regierung sich einzuschalten, weil sie Geld riechen konnte. So fand die deutsche Regierung einen bequemen Partner.

Was sind Ihre nächsten Schritte?

Zurzeit ist ein Gerichtsverfahren in Namibia anhängig. Sollte die Klage, dass die »Gemeinsame Erklärung« nicht unterzeichnet werden darf, keinen Erfolg haben, werden wir den Kampf an die Frontlinie tragen, was für uns Deutschland ist. Weiterhin werden wir über die Vereinten Nationen tätig sein, vor kurzem haben wir auch einen Antrag beim UN-Ausschuss zur Beendigung der Rassendiskriminierung gestellt. Auch die deutsche Zivilgesellschaft muss weiterhin Aufklärungsarbeit zur vernachlässigten deutschen Geschichte leisten. Wir wollen, dass diese Themen in eine globale Bewegung für Gerechtigkeit eingebracht werden.

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