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Das ganze Jahr November
Die Tindersticks singen auch auf ihrem neuen Album »Soft Tissue« traurige Lieder über die moderne Welt
Die 90er Jahre, so will uns retrospektiv die Musikgeschichtsschreibung glauben machen, waren ein Jahrzehnt der grellen Farben und Töne, der Ausgelassenheit und des Hedonismus, mehr Dur als Moll, mehr Upbeat als Downtempo. Ganz falsch ist das nicht, ganz richtig aber eben auch nicht: Denn neben Scooter, Dr. Alban, Oasis und Fanta 4 gab es auch die aus dem englischen Nottingham stammenden Tindersticks, die zwar nicht zu Chartstürmern, dafür aber immerhin zu Kritikerlieblingen wurden. Je ausgelassener die damalige Verblödung und der sie umgebende Partytaumel, so scheint es rückblickend, desto schwermütiger wurden ihre Songs.
Geprägt waren diese von einem schon damals anachronistischen Sound, der mehr nach dem Ende der Geschichte als nach Freiheitsdrang klang, und sich aus schleppenden Beats, düsteren Orgelklängen und traurigen Gitarrenmelodien zusammensetzte. Dazu gesellte sich die merkwürdig entrückte Stimme von Frontmann Stuart A. Staples, der nicht als Sänger im klassischen Sinne taugte: In der Tradition von Vorbildern wie Nick Cave oder Scott Walker stehend, croonte er sich stattdessen als traurig-nuschelnder Poet durch seine Lieder – ganz so, als würde er von Juli bis Juni immer nur den November besingen. Erstmals nachzuhören war das auf dem selbstbetitelten Debütalbum aus dem Jahr 1993. Schon damals bezichtigten böse Zungen die Band des Snobismus. Man darf annehmen, dass es das Quintett in seinem Weg bestätigt hat.
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Seitdem sind die Jahre ins Land gezogen. Die Welt ist eine andere als damals, doch die Tindersticks sind immer noch dieselben. Das unterstreicht auch das neue Album »Soft Tissue«, das kürzlich erschienen ist. Den darauf enthaltenen acht Songs nach zu urteilen, ist die Band um Frontmann Stuart A. Staples seit ihren Anfangstagen keinen Deut glücklicher geworden.
Das zumindest legt bereits der Opener »New World« nahe: »Thundering and lightning and the ground began to move/ My days were just breaking/ Shaking and collapsing, the debris began to moan/ Was this all of my own making?”, singt Staples – irgendwo zwischen Realität und Wahn gefangen. Einen Deutungsversuch liefert er auch gleich mit: „Maybe it’s the new world.«
Ja, die neue Welt bietet allerlei Anlass für Gram und Kummer. Begrüßenswert ist das zwar nur bedingt, aber immerhin bietet sie seit über 30 Jahren die kreative Grundlage der Tindersticks. Gerade weil sie als altmodische, englische Dandys so gar nicht in diese neue Welt passen wollen, ist die Traurigkeit in ihre Musik eingeschrieben wie das Wasser in das Meer.
Leidgenossen hat Staples in Form seiner Bandkollegen aber zum Glück auch auf seiner Seite. Das Quintett unterstreicht, dass es weit mehr ist als nur eine Begleitband ihres charismatischen Frontmanns: Erst durch sein Zutun erwachsen die hochklassigen Singer/Songwriter-Stücke Staples mitsamt ihren ausgetüftelten, aber stets reduzierten Soundwelten zu außergewöhnlicher Klangkunst. Songs wie »Nancy« oder »Always A Stranger« gehören dabei mit zum Besten, was die Band in ihrem durchgängig hörenswerten, und nun schon 14 Alben umfassenden Backkatalog aufgenommen hat.
Tindersticks: »Soft Tissue« (City Slang)
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