Alexandru Bulucz: »Lyrik lesen ist Lesen lernen«

Was man zur Buchmesse einmal wissen will: Wie geht Lyrik? Ein Gespräch mit dem Dichter Alexandru Bulucz

  • Interview: Frédéric Valin
  • Lesedauer: 8 Min.
»Das gelungene Gedicht und sein Leser sind wie zwei Magnete, die sich abstoßen.«
»Das gelungene Gedicht und sein Leser sind wie zwei Magnete, die sich abstoßen.«

Herr Bulucz, denken Sie in Rhythmen?

Nein, ich denke nicht in Rhythmen. Die Rhythmen sind die Arbeit. Ich gehe oft von bestimmten Stoffen aus: Erinnerungen, Motive, Redewendungen, Wörter, um die herum die Gedichte entstehen. Ich verfasse vieles streng metrisch, weil ich selbstbewusster das Gedicht aus der Hand geben kann, wenn ich weiß, dass jede Silbe ihren unverzichtbaren Ort hat. Das streng metrische Schreiben zeitigt allerdings eine interessante Folge: Weil ich nicht immer auf das angemessenste Wort eines Gedankens zugreifen kann und mich eines anderen Wortes bedienen muss, entfernt mich die strenge Form des Gedichts immer weiter von dem Stoff, um den herum es entstanden ist.

In Ihrem Buch »Stundenholz« greifen Sie ja auch immer wieder auf Erinnerungen zurück, die sprachlich eigentlich anders konnotiert sind, denke ich mir, nämlich rumänisch.

Meine Muttersprache ist Rumänisch, und ich hatte, einmal in Deutschland, keine Sprache mehr, ich war sprachlos. Auch deshalb sprachlos, entgeistert, weil die Emigration ein Schock gewesen ist für mich. Ich habe meinen Vater zurückgelassen, meine Freunde in der Schule und im Sportverein. Ich habe meine vertraute Umgebung verloren, alles, was mir lieb war, blieb dort, wo ich nicht mehr war. Ich hatte keinen Schutzraum mehr. Die Emigration war eine Art ohrenbetäubender Wecker, den ich bis heute nicht ausschalten kann. Die totale Bewusstwerdung, die totale Wachheit – es gibt keinen Superlativ für dieses Trauma, außer vielleicht den Insomniker, der den ruhig Schlafenden den ruhigen Schlaf verübelt.

Interview

Alexandru Bulucz ist Lyriker, Literatur­kritiker und Germa­nist. Geboren 1987 in Alba Iulia in Rumä­nien, kam er 2000 nach Deutsch­land. Im Früh­jahr erschien von ihm bei Schöff­ling der Gedicht­band »Stunden­holz«. Im Juni bekam er den Hölty-Preis, den höchst­dotierten Lyrik­preis Deutschlands.

Wie beeinflusst das Ihre Arbeit?

Meine lyrischen Subjekte sind in der Tat davon besessen, qua Gedächtnis und Erinnerung das Rumänien der 90er Jahre zu rekonstruieren, dieses höllische Paradies oder, je nachdem, diese paradiesische Hölle, aus der ich nicht wirklich befreit werden wollte. Denn manches Bewusstsein ist ein Verhängnis. Es führt zur Unmöglichkeit, die Gegenwart und die unmittelbare Erfahrung zu leben, von der Zukunft gar nicht erst zu sprechen. Und diese Rekonstruktion, als ob ich mein Trauma kompensieren wollen würde, ist häufig auf Fakten angewiesen. Wenn ich zum Beispiel über Ceaușescus berühmtes Verbot von Abtreibung und allen Verhütungsmitteln schreibe, also über etwas, das sich bis in meine Familie ausgewirkt hat, dann müssen die Fakten stimmen, dann wähle ich bestimmte Wörter bewusst, um es auszudrücken. In diesem Sinne bin ich journalistisch, gewissenhaft. Gleichzeitig versuche ich so gerecht wie nur möglich zu bleiben. Ich versuche zu zeigen, dass es ein Leben im Falschen gibt, ein Leben, das es trotz seines falschen Kontextes zu würdigen gilt. Wenn das etwas mit der Wahrheit des Individuums zu tun hat, dann bin ich froh.

Ist es ein naiver Gedanke, zu sagen, dass Gedichte nur verstehen kann, wer auch Gedichte schreibt? Lyrik scheint mir so eine Art Dedication zu sein, noch viel mehr als Prosa.

Lyrik ist aber vielleicht deshalb die am massenuntauglichste Gattung, weil sie ästhetisch tendenziell alle Art von Stagnation ablehnt. Sie ist aber auch die wandlungsfähigste Gattung, ständig auf Erneuerung aus. Wir hatten diese Debatte gerade wieder, in Folge des Büchner-Preises an Oswald Egger. Er gilt als besonders schwierig für den großen deutschsprachigen Buchmarkt. Die Jury hat radikale Kunstautonomie gewürdigt, und das ist schon mal gut. Brechts Lyrik zum Beispiel gilt zu einem großen Teil als politisch. Man könnte an einzelnen Gedichtbeispielen von ihm das Verhältnis von Inhalt und Form diskutieren, das heißt von Mitteilung und ästhetischer Innovationskraft. Je dominierender die Mitteilung, desto kleiner die ästhetische Innovationskraft, das wäre meine These. Umgekehrt wird über eine ausgeprägte ästhetische Innovationskraft der Inhalt eines Gedichts zurückgedrängt, bis er kaum eine Rolle spielt. Da gilt es abzuwägen.

Noch eine These: Ich hab den Eindruck gewonnen, Lyrik ist Lesen lernen, aber ziellos.

Für mich ist das potenziell Unerschöpfliche des poetischen Ausdrucks das, was ein Gedicht mit ausmacht. Ich halte das für eine große Qualität. Und »Information« ist schließlich der Begriff, um den es geht: Alltagsinformation; das Nützliche, ist eben etwas anderes als poetische Information oder eine Mitteilung. Letztere unterbricht ja mehr oder weniger die Sprachkonvention, setzt die Sprache außer Funktion, ist Analyse der Sprache. Insofern würde ich sagen: Ja, Lyrik lesen ist Lesen lernen. Lyrik lesen ist auch, die nicht restlos auflösbare Unschärfe auszuhalten, in der man sich plötzlich aufhält.

Apropos Unschärfe: Sind Sie eine andere Person, wenn Sie Rumänisch sprechen?

Ja, das spüre ich, aber zum Glück nicht häufig, da ich nicht mehr häufig Rumänisch spreche, erst recht nach dem Tod meines Vaters im vergangenen Februar, mit dem ich in den 24 Jahren seit meiner Emigration vor allem telefoniert habe. Wenn ich diese Erfahrung durchmache, also Rumänisch spreche, dann bin ich wieder der Junge von damals. Der spricht aber nicht einfach nur Rumänisch, sondern Rumänisch auf dem Niveau eines 13-Jährigen, dessen rumänischer Wortschatz und rumänisches Sprachgefühl seit nunmehr 24 Jahren schwinden. Von diesem Jungen hat sich mein deutsches Selbst stark entfremdet wie auch von Rumänien und meinen dortigen Landsleuten.

Wie kamen Sie eigentlich zum Dichten?

Gedichtet habe ich schon in Rumänien als junger Schüler, also noch auf Rumänisch. Man muss aber bedenken, dass Lyrik in Rumänien einen viel größeren Stellenwert hat als hier. Ich erinnere mich an Widmungsgedichte an die Eltern. Mein Vater war bis zuletzt im Besitz meines Gedichte-Hefts mit etwa 10 bis 15 Gedichten aus der Zeit. Ich habe mich nicht getraut, sie wieder zu lesen, als ich die Möglichkeit dazu hatte. In Deutschland habe ich im Studium angefangen, ernsthafter zu schreiben. Das mag mit meiner damaligen Beziehung zusammenhängen. Meine Partnerin schrieb auch. Dann kamen erste große Lektüren: Dostojewski, Celan, Cioran usw., die so anregend waren, dass ich spürte, ich möchte darauf antworten, literarisch.

Für Walter Benjamin, den Sie in »Stundenholz« neben vielen anderen Philosophen auch zitieren, verläuft der Königsweg zur Rückgewinnung einer göttlichen Sprache über die Übersetzung von Poesie. Das ist in gewisser Weise variiert auch etwas, was sich bei Ihnen findet.

Bei Benjamin ist die Übersetzung der »Versöhnungs- und Erfüllungsbereich der Sprachen« – man merkt sofort den messianischen Charakter des Aufsatzes. Es ist ein Bereich, in dem der Sinn von Sprache transzendiert wird. Daher auch Benjamins Verneigung vor Hölderlins Sophokles-Übersetzungen, in denen der Sinn »von Abgrund zu Abgrund« stürze. Ich finde, Übersetzung ist nicht nur Übersetzung von Sprachen, sondern auch von hier unbekannten Erfahrungen ins Hiesige; Erfahrungen, die ich in meinem Fall aus Rumänien mitbringe. Auch sie erweitern das Deutsche, behaupte ich mal selbstbewusst. Ich kann nicht ohne Weiteres meine Dichtung mit dem Gedanken der »reinen Sprache« verbinden, aber immerhin sagen, dass das Unreine in meinem Werklein eine Rolle spielt. Zum Beispiel die häufige Erfahrung, dass in Kirchen und Klöstern keine Klos zu finden sind. Und meine Behauptung ist, dass die Kirche besser dran wäre, wenn sie sich beherzter auf das Unreine einlassen würde. Für mich war Lyrik immer eine Art Renitenz gegenüber der modernen Erfahrung. Wahlheimaten sind kaum erreichbar, Ideale. So bleibt mir manchmal nur, mich in der Unbehaustheit des Verlusts aufzuhalten.

Wenn ich mit Menschen außerhalb Europas spreche, ist deren Eindruck oft, der Western befände sich in einem Niedergang. Bei Ihnen finde ich das Gegenteil wieder, vielleicht ist das aber auch nur Projektion?

Aus meiner vergleichenden Perspektive heraus kann ich sagen, dass ich in der besten aller möglichen Welten lebe. Wenn ich das ab und an erwähne, irritiert es die Leute. Damit ist aber nur gemeint, dass ich mich für Deutschland entscheiden würde, wenn die einzige Alternative Rumänien wäre. Denn was wäre geschehen, wenn ich in Rumänien geblieben wäre?! Ich wäre vielleicht Spargelstecher geworden wie mein Onkel, der jährlich nach Deutschland kommt, um in der Nähe von Bremen Geld zu verdienen, das dann für das ganze Jahr in Rumänien reichen soll. Das Phänomen der osteuropäischen saisonalen Arbeitskraft ist verheerend für Familien. Manchmal kommt nicht nur ein Elternteil nach Deutschland, sondern beide. Und manchmal kommen auch die Großeltern. Das Kind oder die Kinder landen bei irgendeiner Verwandtschaft x-ten Grades. Auf der anderen Seite fasse ich mir oft an den Kopf und frage mich: Was hätte Majka gesagt, meine Urgroßmutter und eine der Hauptfiguren meines Gedichtbands »Stundenholz«, wenn sie mit bestimmten Problemchen der westlichen Welt konfrontiert worden wäre. Wahrscheinlich hätte sie nicht einmal gewusst, wovon die Rede ist. Mit anderen Worten: Es ist absurd, wie weit uns bestimmte gesellschaftspolitische Scheindebatten von der eigentlichen sozialen Frage wegführen. Wenn ich es mir vor Augen führe, dann werde ich bitter. Unterm Strich: Ich bin kulturpessimistisch – Niedergang überall, in bestimmten Regionen halt schneller.

Und was macht für Sie einen gelungenen Text aus, insbesondere ein gelungenes Gedicht?

Ich glaube, ein gelungenes Gedicht ist eines, dass sich nicht auf seinen Inhalt reduzieren lässt. Das gelungene Gedicht und sein Leser sind dann wie zwei Magnete, die sich abstoßen, die Annäherung ans Gedicht ist begrenzt. Den unüberwindbaren Abstand zu erkennen, ist Nähe zum Gedicht.

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