Chile: Alles bleibt, wie es war

In Chile herrscht fünf Jahre nach der Revolte Ernüchterung

  • Malte Seiwerth, Santiago de Chile
  • Lesedauer: 4 Min.
Wasserwerfereinsatz am dritten Jahrestag der Revolte 18. Oktober 2022 in der Nähe des Baquedano-Platzes in Santiago.
Wasserwerfereinsatz am dritten Jahrestag der Revolte 18. Oktober 2022 in der Nähe des Baquedano-Platzes in Santiago.

»Sie haben uns ein weiteres Mal verarscht«, sagt Miguel Poch im Gespräch mit »nd« verbittert. Der 32-jährige Geschichtslehrer blickt am fünften Jahrestag der Proteste vom 18. Oktober 2019 mit Wut auf die Ereignisse zurück. Poch ging damals, wie eine Million weiterer Menschen aus Chile, gegen das neoliberale Wirtschaftsmodell und für mehr soziale Sicherheit auf die Straße. Die rechte Regierung unter dem im Februar 2024 bei einem Hubschrauberabsturz ums Leben gekommenen Ex-Präsidenten Sebastián Piñera reagierte mit Polizeigewalt und Militärpräsenz auf die Proteste. Dem Geschichtslehrer Poch fällt es schwer, zurückzuschauen. Er meint, »obwohl wir damals so viel gekämpft haben, hat sich nichts verändert«.

Mitglieder der seit März 2022 amtierenden links-reformistischen Regierung unter Gabriel Boric teilen die Einschätzung Pochs. Viele wichtige Vertreter*innen waren damals Teil der Protestbewegung. Regierungssprecherin Camila Vallejo, die bereits 2011 die damalige Studierendenbewegung anführte, schrieb in einer Anfang Oktober veröffentlichten Kolumne in der Tageszeitung »La Tercera«: »Die Gründe für die damalige Unzufriedenheit bestehen weiterhin.« Den führenden Institutionen, namentlich der Politik und den Unternehmer*innen, sei es nicht möglich gewesen, den von der Zivilgesellschaft verlangten Wandel in Chile herbeizuführen.

Progressive Verfassung fällt beim Plebiszit durch

Im Jahr 2022 scheiterte ein progressiver Verfassungsentwurf an der Urne. Zwei Drittel lehnten ihn beim Plebiszit ab. Sie sahen sich zu wenig in der Umsetzung der Forderungen repräsentiert. Zudem machten damals Falschinformationen über den Inhalt des Entwurfs die Runde. Die Regierung selbst trat Anfang 2022 mit einem Wahlprogramm an, das weitreichende Reformen versprach. Doch die meisten Initiativen wurden in den Parlamentskammern verworfen, wo die Opposition eine Mehrheit hat. Stattdessen setzte die Regierung vor allem kleinere Verwaltungsreformen um, wie die Aufhebung der Kostenbeteiligung für Patient*innen im öffentlichen Gesundheitssystem oder eine Stärkung der Arbeitskontrollen.

Kritiker*innen sehen in der Regierung eine Kontinuität zu der ehemaligen Mitte-links-Koalition Concertación por la Democracia unter der ehemaligen Präsidentin Michelle Bachelet. Das zielt vor allem auf die großen, umweltgefährdenden Bergbauprojekte wie den Lithiumabbau im Norden des Landes.

Auch unter der Regierung Boric ist die Aufarbeitung der 2019 begangenen Menschenrechtsverletzungen ausgeblieben, kritisieren Menschenrechtsorganisationen. Laut Amnesty International führte der Einsatz von Schrot, Gasgranaten und Wasserwerfern zu mindestens 400 dauerhaften Augenverletzungen. 36 Personen kamen unter bislang größtenteils ungeklärten Umständen ums Leben. Die staatliche Ombudsstelle für Menschenrechte hat über 1000 Anzeigen von festgenommenen Demonstrant*innen wegen erlittener Gewalt und Folter vor Gericht eingereicht.

Repression der Polizei bleibt ungeahndet

Bereits im Dezember 2019 kritisierten die UN das Vorgehen der Sicherheitskräfte als »Verstoß gegen internationale Normen« und sprachen von einer hohen Zahl von Menschenrechtsverletzungen. Der damalige Vorwurf war, dass die Polizeigeneräle von den Menschenrechtsverletzungen wussten, allerdings nichts unternahmen, um sie zu unterbinden. Erst im September 2024 klagte die chilenische Staatsanwaltschaft in Chile drei ehemalige Generäle der chilenischen Polizei, Carabineros, wegen Nichteingreifens zur Unterbindung von Menschenrechtsverletzungen offiziell an.

Rechte Parteien kritisierten den Vorgang als politischen Prozess. Poch meint hingegen gegenüber »nd«: »Ich habe das Gefühl, dass sich in den vergangenen Jahren ein Diskurs etabliert hat, der die Proteste mit Kriminalität gleichsetzt und dadurch die Gewalt der Polizei rechtfertigt.« Umfragen unterstreichen die Aussage von Poch. Während laut einer Befragung des rechten Meinungsforschungsinstituts Cadem im November 2019 um die 60 Prozent der Bevölkerung Gewalt zur Verteidigung von Demonstrationen unterstützten, sehen heute nur noch 20 Prozent positiv auf jene Leute zurück, die sich mit der Polizei anlegten. Viele Menschen rechtfertigten damals die Gewalt gegen die Polizei, da diese keine Demonstrationen zuließ und versuchte, diese im Keim zu ersticken.

Obwohl die Forderungen von 2019 kaum umgesetzt wurden, liegen die Prioritäten der chilenischen Bevölkerung inzwischen anscheinend woanders. In politischen Debatten für die Kommunalwahlen am 26. und 27. Oktober dominiert das Thema der öffentlichen Sicherheit. Laut Umfragen der rechtsgerichteten Stiftung Paz Ciudadana fühlte sich die Bevölkerung noch nie so unsicher wie heute. Dementsprechend populär sind Lösungsvorschläge, die mit mehr Gewalt und höheren Strafen auf Delikte reagieren sollen.

Poch glaubt, dass viele Menschen die Hoffnung verloren haben, durch Proteste ihre Lebensbedingungen verbessern zu können. Trotzdem rufen soziale Organisationen für den Nachmittag des 18. Oktober zu Protesten auf. Poch selbst wird dann Unterricht geben. Er möchte vor seiner Klasse die Proteste von 2019 thematisieren, »um die Erinnerung an die Taten von damals aufrechtzuerhalten«.

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