Einst mit guten Hoffnungen beladen

»Sonderzug nach Moskau«: Bastian Matteo Scianna diskutiert die deutsche Russland-Politik nach 1990

  • Harald Loch
  • Lesedauer: 4 Min.
Schön wars in Moskau: Bundeskanzler Gerhard Schröder im Bann der deutschen Intressen vor der Finanzakademie in der russischen Hauptstadt 2004
Schön wars in Moskau: Bundeskanzler Gerhard Schröder im Bann der deutschen Intressen vor der Finanzakademie in der russischen Hauptstadt 2004

Schlafwandler oder Traumtänzer? Betrachtet man die deutsche Russlandpolitik seit der deutschen Einheit, sehen viele einen Trümmerhaufen, andere sitzen noch im »Sonderzug nach Moskau«. Unter diesem Titel hat der an der Universität Potsdam habilitierte Historiker Bastian Matteo Scianna jetzt eine erste wissenschaftliche Darstellung der Kanzlerschaften Kohl, Schröder, Merkel und Scholz und ihrer Russlandpolitik vorgelegt. Er behält auch andere Staaten im Blick, um das Besondere der deutschen Russlandpolitik zu erkennen.

Die Grundfrage, eigentlich jeder Politik, ist auch in diesem Fall: Sollte das historisch belastete Verhältnis zu Russland von einer wertegeleiteten oder einer interessengeleiteten Politik bestimmt werden? Mit anderen Worten: Sollte Deutschland auf russische Fortschritte in Fragen der Demokratisierung, der Menschenrechte und der Rechtstaatlichkeit bestehen und davon die Beziehungen abhängig machen, oder sollten die deutschen, meist wirtschaftlich basierten Interessen im Vordergrund stehen?

Für Helmut Kohl war das noch eine andere Frage. Die deutsche Einheit war noch nicht vollzogen. Die Sowjetunion und damit auch das junge nachsowjetische Russland brachen wirtschaftlich und politisch zusammen. Für Kohl kam es in erster Linie auf die Vollendung des Einigungsprozesses (Zwei-plus-Vier-Vertrag) und den Abzug der sowjetischen beziehungsweise russischen Truppen aus Deutschland an. Dazu wurde das Scheckbuch gezückt, dazu wurde ein sehr persönliches Verhältnis zwischen Kohl und Gorbatschow beziehungsweise Jelzin aufgebaut.

Scianna schildert nicht nur die Verhandlungen in Strickjacke oder im Handtuch in der Sauna, sondern vor allem die Einbeziehung der westlichen Siegermächte des Zweiten Weltkriegs und Polens in den Einigungsprozess. Das waren außenpolitische Kunststücke der Kohl-Regierung, die den Beifall Sciannas finden.

Mit dem Nachfolger im Kanzleramt, Gerhard Schröder, geht er schon kritischer um. Er macht aus dem SPD-Kanzler den »Handlungsreisenden aus Hannover«, beschreibt den Kometenschweif von Wirtschaftsbossen im Anhang Schröders auf dessen zahlreichen Moskau-Flügen. Reine Interessenpolitik, von »westlichen Werten« keine Spur!

Damals ging es schon um die Energiesicherheit Deutschlands. Schröder dachte eher an eine multipolare, weniger an eine multilaterale Weltordnung nach dem Kalten Krieg. Darin sollte Deutschland einen wichtigen Platz einnehmen, am besten einer der vielen Pole sein. Schröders Verhältnis zu den USA war notorisch schlecht, zuweilen machte er gemeinsam mit Frankreich Front gegen Washington, immer war Russland auf dieser Seite.

Scianna belegt mit vielen Quellen diese Haltung, die er als viel zu nachgiebig gegenüber dem imperialistisch auftretenden Russland abqualifiziert. Schröder war weder Schlafwandler noch Traumtänzer, aber vielleicht der erste Betrogene unter den deutschen Bundeskanzlern.

Seine Nachfolgerin Angela Merkel kommt bei dem Autor deutlich besser weg. Auch sie verfolgte – vor allem in der Energiefrage (Nord Stream) – eine deutliche Interessenpolitik. Sie forderte dabei immer russische Fortschritte in den Werten, ohne aber damit größere Erfolge zu verzeichnen. Mit dem Moskauer Interimschef Dmitri Medwedew verband nicht nur sie die Hoffnung auf eine liberalere Haltung, wurde aber sehr bald enttäuscht – und noch stärker, als Wladimir Putin seine nur wegen der – mittlerweile geänderten – zeitlichen Begrenzung der russischen Präsidentschaft pro forma unterbrochene Herrschaft wieder antrat. Für Werte hatte er nur Spott übrig, Interessen konnte er verstehen.

Die Krisen häuften sich: Kosovo, Serbien, Georgien, Moldawien, früh schon die Ukraine – anfangs die problematische Osterweiterung der EU und der Nato, der Irak-Krieg und das Verhältnis zum Iran. Überall war die deutsche Russland-Politik gefordert, und der Autor zeichnet diese dramatischen Szenarien spannend nach.

Am Schluss skizziert Scianna die Russland-Politik der gerade eben zerfallenen Ampel-Koalition, in der Außenministerin Annalena Baerbock eine wertegeleitete Politik betreibt und dafür ebeno wie Schröder damals für seine interessengeleitete Politik kritisiert wird. Den anfänglichen Verzicht auf Waffenlieferungen an die Ukraine kritisiert der Autor; den Blick auf die Erhaltung des Weltfriedens im Zögern von Scholz hält er für eine zu weiche Position gegenüber dem Aggressor Putin. Die vom bekannten US-Journalisten Bob Woodward vorgenommene Würdigung der Politik von Präsident Biden, der im Interesse der Friedenserhaltung dosierte militärische Härte mit diplomatischer Behutsamkeit verband, ist jedenfalls kein Vorbild für Scianna. Er schließt mit den Worten: »Der deutsche Sonderzug fuhr, und fuhr, und fuhr – mit guten Hoffnungen beladen.«

Bastian Matteo Scianna: Sonderzug nach Moskau. Geschichte der deutschen Russlandpolitik nach 1990. C. H.Beck, 719 S., geb., 34 €.

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