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Haftbefehl gegen Netanjahu: Völkerrecht statt Staatsräson

Mit dem Haftbefehl gegen Netanjahu stellt sich der Internationale Strafgerichtshof erstmals gegen die USA und ihre Verbündeten

Der Internationale Strafgerichtshof wirft Israel unter anderem vor, die Bevölkerung in Gaza auszuhungern.
Der Internationale Strafgerichtshof wirft Israel unter anderem vor, die Bevölkerung in Gaza auszuhungern.

Als Südafrika Ende vergangenen Jahres den Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag anrief, wegen des drohenden Völkermords in Gaza Maßnahmen gegen Israel zu ergreifen, war die Empörung der westlichen Staatengemeinschaft groß. Die Bundesregierung ließ verlauten, dass sie Südafrikas Initiative »entschieden und ausdrücklich« zurückweise, weil der Vorwurf des Genozids »jeder Grundlage entbehre.« Und als sich einige Wochen später dann auch noch ein Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) gegen Mitglieder der israelischen Regierung abzeichnete, erklärte US-Präsident Joe Biden kategorisch: »Der Antrag des IStGH-Staatsanwalts auf Haftbefehle gegen die israelische Führung ist empörend.« (outrageous)

Mehrere Zehntausend Tote später ist man klüger. Der Strafgerichtshof in Den Haag hat tatsächlich denjenigen recht gegeben, die Israel einen Genozid gegen die Palästinenser vorwerfen. Wenn Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu und sein ehemaliger Verteidigungsminister Yoav Gallant in einen jener 124 Staaten reisen, die das »Römische Statut« unterzeichnet haben, müssen sie festgenommen werden. Ansonsten beginge der Mitgliedsstaat Vertragsbruch.

Die Den Haager Haftbefehle, die sich auch gegen den Hamas-Führer Mohammed Deif richten (der allerdings schon lange auf Fahndungslisten steht und vermutlich auch nicht mehr am Leben ist), sind mit Kriegsverbrechen begründet. Im Konkreten wirft der Strafgerichtshof Netanjahu und Gallant eine Hungerblockade des Gaza-Streifens vor. Der Zivilbevölkerung werde eine ausreichende Versorgung mit Wasser, Lebensmitteln und medizinischen Gütern vorenthalten, was – so das Gericht – als »umfassender und systematischer Angriff auf die Zivilbevölkerung« bewertet werden muss.

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Der Internationale Strafgerichtshof, der seit seiner Gründung im Jahre 2002 nur gegen afrikanische und russische Beschuldigte Haftbefehle ausgestellt hat, löst damit ein, was aus dem globalen Süden schon lange gefordert wird. Er macht deutlich, dass es keine doppelten Standards geben darf. Nach den Milizenführern der ugandischen Lord’s Resistance Army, der libyschen Herrscherfamilie der Gaddafis und dem russischen Staatspräsidenten Wladimir Putin trifft es mit dem israelischen Regierungschef nun erstmals einen engen Verbündeten der USA. Israel ist mit Abstand der weltweit wichtigste Empfänger von US-Militärhilfe – einer Studie des Watson Institute for International and Public Affairs zufolge ist die Waffenhilfe, die immer auch einer Subvention für die US-Rüstungsindustrie gleichkommt, im vergangenen Jahr durch die Decke gegangen und betrug etwa 18 Milliarden US-Dollar.

Vor diesem Hintergrund ist absehbar, dass Netanjahu nicht allzu viel zu befürchten hat. Er wird sich noch freier in der Welt bewegen können als Russlands Präsident Putin, der trotz eines Haftbefehls unlängst zum Staatsbesuch in der Mongolei weilte. Anders als bei Putin wird dieser Umstand in der westlichen Öffentlichkeit aber vermutlich kaum skandalisiert werden.

Der Internationale Strafgerichtshof macht klar, dass es keine doppelten Standards geben darf.

CDU-Chef Friedrich Merz, der schon bald im Kanzleramt sitzen dürfte, hatte bereits im Mai klar gemacht, dass er sich Den Haag nicht unterordnen will. Damals hatte der Pressesprecher der Bundesregierung Steffen Hebestreit erklärt, Deutschland unterstütze den Internationalen Strafgerichtshof, woraufhin Merz via Springer-Konzern die Abberufung des Sprechers verlangte. Der Internationale Strafgerichtshof sei eingerichtet worden, »um Despoten und autoritäre Staatsführer zur Rechenschaft zu ziehen, nicht um demokratisch gewählte Regierungsmitglieder festzunehmen«, so der CDU-Chef.

Damit liegt er ganz auf der Linie von US-Präsident Biden, der den Haftbefehl noch am Donnerstag ausdrücklich verurteilte. Naheliegenderweise fühlt sich Israel durch solche Äußerungen ermutigt. Die Netanjahu-Regierung schaltete sofort in den Angriffsmodus: »Die antisemitische Entscheidung des Internationalen Strafgerichtshofs ist vergleichbar mit einem modernen Dreyfus-Prozess – und wird ebenso enden.« Und der israelische Minister für nationale Sicherheit Itamar Ben-Gvir forderte die Annexion des Westjordanlands »als Antwort auf die Haftbefehle«.

Für die europäischen Staaten, die ihr geopolitisches Vorgehen stets mit Menschenrechtsrhetorik zu untermauern versuchen, stellen die Haftbefehle eine echte Herausforderung dar. Schon nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine hatten zahlreiche Staaten des globalen Südens gefragt, warum wegen eines russischen Kriegs Sanktionen verhängt werden müssten, vergleichbare Operationen der USA aber stets folgenlos blieben. Wenn der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell nun alle EU-Staaten aufgefordert hat, der Anweisung Den Haags Folge zu leisten, geht es nicht zuletzt auch darum, eine gewisse Glaubwürdigkeit zu wahren.

Nichtsdestotrotz weisen alle Zeichen darauf hin, dass Netanjahu – anders als die Kommandanten der Hamas – ungestraft davon kommen wird. Vor die Frage gestellt, ob man Israel oder dem Völkerrecht verpflichtet ist, werden sich die USA und ihre Verbündeten für Ersteres entscheiden. Wie nd-Kolumnist Yossi Bartal schon vor einigen Tagen in diesem Blatt schrieb: Das Völkerrecht hat wenig Verbündete, im Zweifel herrscht der Doppelstandard.

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