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  • Vorschlag für »Mare Solidale«

EU-Katastrophenschutz soll Seenotrettung übernehmen

Organisationen wollen Brüsseler Mechanismus gegen das Sterben im Mittelmeer einsetzen

Als einziger EU-Staat hatte Italien 2014 ein staatliches Programm zur Seenotrettung aufgelegt. Die EU machte Druck für dessen Ende.
Als einziger EU-Staat hatte Italien 2014 ein staatliches Programm zur Seenotrettung aufgelegt. Die EU machte Druck für dessen Ende.

Anlässlich der Abstimmung über die neue EU-Kommission haben 14 Organisationen am Mittwoch mit dem Konzept »Mare Solidale« ein europäisches Rettungsprogramm vorgestellt, um das Sterben im Mittelmeer zu beenden. Zentral ist dabei die Nutzung des bestehenden Zentrums für die Koordination von Notfallmaßnahmen (ERCC) in Brüssel, das im Rahmen des EU-Katastrophenschutzmechanismus für humanitäre Einsätze zuständig ist. Dem Vorschlag zufolge könnte das ERCC zur Koordinationsstelle für Seenotrettung werden, mit Ressourcen und Personal aus den Katastrophenschutzeinrichtungen der EU-Mitgliedstaaten.

Das Programm würde auf internationalen Vereinbarungen wie dem UN-Seerechtsübereinkommen, der Seenotrettungs-Konvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention basieren. Diese verpflichten dazu, Menschen in Seenot zu retten und sie an sicheren Orten an Land zu bringen. Die beteiligten Organisationen betonen, dass aktuelle Anlandepraktiken in Libyen und Tunesien diesen Anforderungen nicht genügen, da dort weder Asylverfahren noch der Schutz grundlegender Menschenrechte gewährleistet sind.

Durch die Nutzung des ERCC könnten bestehende Kapazitäten besser koordiniert und – wie etwa derzeit durch die Rechtsregierung in Italien – die Politisierung von Rettungsmaßnahmen reduziert werden. Dazu soll in dem EU-Zentrum eine Einheit geschaffen werden, die Überwachungskapazitäten von Frontex übernimmt. Hierzu gehören etwa Flugzeuge, Drohnen oder Aufklärungssatelliten sowie moderne Anwendungen zur KI-gestützten Auswertung der gewonnenen Daten.

Katastrophenschutz in internationalen Gewässern

Ein zentraler Punkt des Vorschlags ist die Forderung, dass das Programm zur Seenotrettung klar von Aufgaben wie Grenzschutz und Strafverfolgung getrennt wird. Aktuell behindern derartige Doppelmandate, etwa bei Frontex oder nationalen Küstenwachen, oft lebensrettende Maßnahmen. Dies zeige sich besonders drastisch in Fällen, in denen Informationen zur Seenot nicht genutzt oder Menschen rechtswidrig in gefährliche Regionen zurückgeschickt werden.

Koordiniert durch das ERCC könnten Rettungseinheiten aus nicht-polizeilichen Katastrophenschutzressourcen in internationalen Gewässern patrouillieren, insbesondere in Gebieten, in denen die meisten Notfälle auftreten. In den EU-Mittelmeeranrainern existierende Maritime Leitstellen für die Seenotrettung (MRCCs) sollen die Einsätze leiten, da sie über die notwendige Expertise und Übersicht verfügen.

Sollte in einer Region keine funktionierende MRCC-Struktur vorhanden sein oder Menschenrechtsverletzungen nachweislich dokumentiert sein, würde die nächstgelegene, funktionierende Leitstelle die Koordination übernehmen. Dieser Passus zielt auf die sogenannte Küstenwache in Libyen, die zwar seit 2018 ein aus EU-Mitteln gefördertes MRCC erhalten soll, dessen Ausrüstung allerdings in dunklen Kanälen versickert.

Ergänzend zum Rettungsprogramm schlägt »Mare Solidale« die Einrichtung offener Erstaufnahmeeinrichtungen vor, in denen Gerettete nach ihrer Ankunft medizinisch versorgt, betreut und über weitere Schritte informiert werden. Aufbauend auf positiven Erfahrungen, wie sie etwa bei der Aufnahme von Geflüchteten aus der Ukraine gemacht wurden, könnte ein temporärer Schutzmechanismus eingeführt werden. Dies würde es den Geretteten ermöglichen, innerhalb von drei Monaten in EU-Staaten ihrer Wahl weiterzureisen, bevor sie ein dauerhaftes Aufenthaltsverfahren beginnen. Zugleich würde ein solcher Mechanismus langfristig Kosten senken, da weniger traumatische Migrationswege die Gesundheitsausgaben reduzieren und eine schnellere Integration in den Arbeitsmarkt ermöglichen könnten.

Programm soll günstiger als Frontex sein

Die Kosten für ein solches Rettungsprogramm werden auf 240 Millionen Euro jährlich geschätzt, was nur 0,13 Prozent des EU-Jahresbudgets entspricht und deutlich unter den aktuellen Ausgaben für Grenzschutz und -überwachung liegt. Allein das diesjährige Budget von Frontex beträgt 928 Millionen Euro. Seit 2007 hat die EU-Kommission außerdem 3,5 Milliarden Euro für die Forschung und Entwicklung neuer Grenztechnologien ausgegeben.

Die Operation »Mare Nostrum«, die Italien 2014 eigenständig durchführte, habe laut Daten der italienischen Marine gezeigt, dass staatlich organisierte Rettungsaktionen Leben retten. In nur zehn Monaten seien über 156 000 Menschen aus Seenot gerettet worden, bei Kosten von etwa neun Millionen Euro monatlich. Nach Einstellung von »Mare Nostrum« auf Druck der EU stiegen die Todeszahlen dramatisch an.

Die unterzeichnenden Organisationen, darunter SOS Humanity, Mission Lifeline, Mediterranea Saving Humans, United 4 Rescue und das Alarm Phone, wollen mit dem Vorschlag zeigen, dass das Sterben auf See eine politische Entscheidung sei. Die EU habe die Mittel und das Mandat, ein Rettungsprogramm aufzubauen. Es fehle allein der Wille, dieses umzusetzen.

Linke hat Gutachten bestellt

Wesentliche Punkte des Vorschlags für ein »Mare Solidale« hatte die Linksfraktion bereits 2020 im Bundestag eingebracht. Neben dem ERCC sollte demnach auch der zusätzliche Pool von Ressourcen (»rescEU«) für die Seenotrettung genutzt werden, um in Situationen, in denen verfügbare Kapazitäten nicht ausreichen, unter den Mitgliedstaaten mit Ausrüstung oder »Transportressourcen« Hilfe zu leisten. Die Finanzierung von Schiffen zu einer staatlichen EU-Seenotrettung könnte außerdem im Rahmen der »Integrierten EU-Regelung für die politische Reaktion auf Krisen« (IPCR) erfolgen.

Die damalige schwarz-rote Bundesregierung ließ sowohl die Linksfraktion als auch die Grünen mit Anträgen für eine staatliche Seenotrettung auflaufen. Weder wurden seitens der zuständigen Ministerien Umsetzungsmöglichkeiten geprüft noch setzte sich die Koalition in Verhandlungen für neue EU-Fonds dafür ein, auch Mittel für Such- und Rettungseinsätze einzuplanen.

Ein Gutachten, das Die Linke bei den Wissenschaftlichen Diensten im Bundestag bestellt hat, zeigte das größte Hindernis für die Vorschläge auf. Demnach müssten die Regierungen sich entschließen, das Ertrinken von Flüchtlingen im Mittelmeer als »Krise« zu definieren. Davon betroffene Mitgliedstaaten können dann den EU-Krisenreaktionsmechanismus aktivieren. Anschließend können etwa Malta und Italien weitere Instrumente und Fördermittel nutzen, darunter das rescEU-Programm.

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