Schach-WM: Männer, die auf Bretter starren

Ding Liren und Dommaraju Gukesh liefern sich ein spannendes Finale um den Weltmeistertitel

  • Frédéric Valin
  • Lesedauer: 6 Min.
Psychospielchen auf höchstem Niveau: Der 18-jährige Dommaraju Gukesh (l.) während der Auftaktpartie gegen Titelverteidiger Ding Liren (r.)
Psychospielchen auf höchstem Niveau: Der 18-jährige Dommaraju Gukesh (l.) während der Auftaktpartie gegen Titelverteidiger Ding Liren (r.)

Eigentlich schien die Sache vorher schon klar. Die absolute Mehrheit der Schachwelt war sich in einer Sache ziemlich sicher: Titelverteidiger Ding Liren würde im Kampf um die Weltmeisterschaft kein Land sehen, sein Herausforderer, der 18-jährige Dommaraju Gukesh aus Indien würde ihn auf jeden Fall auseinanderpflücken.

Die Gründe für diese Prognosen liegen auf der Hand. Nachdem Ding Liren vor eineinhalb Jahren in einem hochdramatischen Match den Russen Jan Nepomnjaschtschi geschlagen hatte, verlor der Chinese etwas den Boden unter den Füßen. Nach dem Titelgewinn sagte er, hätte er verloren, hätte er mit dem professionellen Schach aufgehört. Eine Weile wirkte es, als wäre Dings Sieg eine weit größere Tragödie für ihn, als es eine Niederlage je hätte sein können. Seine Leistungen brachen völlig ein, er hatte monatelange depressive Phasen zu durchstehen, unerklärliche Fehler reihten sich an Unkonzentriertheiten, es lief bisweilen derart schlecht, dass seine Kontrahenten Mitleid zum Ausdruck brachten.

Titelverteidiger Ding im Formtief

Aber auf wundersame Weise hat Ding Liren sich in den letzten Monaten stabilisiert. Auch wenn er wenige Partien überzeugend gewinnen konnte, hat er doch wieder festen Boden unter den Füßen. Das sieht der 32-Jährige auch selbst so: Der Favorit sei er ganz sicher nicht, aber er hoffe, er könne sich in das Match hineinarbeiten, sagte Ding vor dem Finale der Schach-WM. Dass er auch nach bitteren Niederlagen zurückschlagen kann, hat der Chinese bereits im letzten Titelkampf gegen Nepomnjaschtschi bewiesen; vielleicht auch deswegen, weil man es ihm, sieht man in sein zartes, zerbrechlich wirkendes Gesicht, überhaupt nicht zutraut.

Doch auch sein aktueller Gegner weiß zu überraschen. Vor dem Kandidatenturnier vor einem Jahr hatten Dommaraju Gukesh nicht sehr viele Menschen auf der Rechnung. Es ist ein wenig der Schatten, der über dieser Weltmeisterschaft hängt, dass am Ende nicht der stärkste Schachspieler der Welt triumphieren wird, denn das ist nach wie vor der Norweger Magnus Carlsen. Und nach wie vor kommt danach lange nichts und dann vermutlich Fabiano Caruana aus den USA. Aber Carlsen hat keine Lust mehr auf die Nervenmühle Schach-WM, und Caruana konnte sich nicht qualifizieren.

Stattdessen drängt die junge Generation nach oben, zu der auch Gukesh mit seinen 18 Jahren gehört. Die WM in Singapur gilt als Kampf der Generationen, denn Ding Liren ist mit 32 Jahren vermutlich schon über seinem Peak. Und Gukesh hat ein formidables Schachjahr hinter sich gebracht; unter anderem holte er zweimal Gold bei der Olympiade im September, einmal mit der Mannschaft und einmal als Einzelspieler am ersten Brett. Nichtsdestotrotz ist er aktuell nur die Nummer fünf der Welt.

Gukesh, der große Rechner

Gukeshs Spiel ist es zu rechnen. Ihm fehlt im Vergleich zu anderen Spielern seines Formats etwas die Intuition, das Gespür für taktische und strategische Finessen. Er muss alles nachprüfen, entsprechend tut er sich in den kurzen Formaten Rapid, Blitz und Bullet schwer. Und der Inder hat in seinem zarten Alter noch einen weiteren Nachteil: Er kennt das Format noch nicht. Bis zu 14 Partien gegen ein- und denselben Gegner, diese unglaubliche physische und psychische Anstrengung, so gut wie jeden Tag über mehr als zwei Wochen an diesem Tisch zu sitzen und stundenlang auf das Brett zu starren, bis es zu flimmern beginnt; das hat Ding Liren ihm voraus.

Das war einer der Gründe, warum Magnus Carlsen sich nicht ohne Weiteres der allgemeinen Meinung anschließen wollte, dass es einen Erdrutschsieg für den jungen Inder geben würde: »Natürlich ist Gukesh der große Favorit, und wenn er zuerst zuschlägt, wird er das Match ohne Probleme gewinnen. Aber je länger es ohne eine entschiedene Partie geht, desto besser ist es für Ding Liren, denn er hat die Fähigkeit, aber nicht das Selbstvertrauen.«

So kam es dann auch. Gleich im ersten Spiel überraschte Ding seinen Gegner mit einer recht aggressiven Variante in der französischen Verteidigung, die auch zeigte: Dem Chinesen fehlt vielleicht das Selbstvertrauen, aber Angst hat Ding nicht. Vielmehr scheint er wild entschlossen, nicht nur auf Fehler des Gegners zu warten, sondern sich selbst Chancen zu kreieren. Das zeigt auch sein ganzer Habitus am Brett. Mit einer von ihm kaum gekannten Entschlossenheit sucht er vor und während der Partien immer wieder den Blick von Gukesh. Dieser zarte, freundliche Mann hat fortwährend das Kinn oben und versucht seinen Gegner in Psychospielchen zu verstricken.

Überraschung und Revanche

In der ersten Partei überrannte er damit den sonst so stabilen Gukesh bei einem Angriff am Damenflügel, an dessen Ende er drei Bauern mehr auf dem Brett hatte. Nach Zug 43 musste Gukesh aufgeben. Das zweite Match verlief dagegen einigermaßen unspektakulär. Nach knapp drei Stunden und 23 Zügen einigten sie sich auf ein Unentschieden. Partie Nummer drei am Mittwoch folgte im Geiste der ersten, obwohl sie als ziemlich ruhiges Queens Gambit declined begann. Aber Ding platzierte recht bald seinen weißen Läufer auf die vorletzte Linie von Gukesh, ein Zug, den zu verstehen wohl nur sehr wenige Schachspieler*innen tatsächlich in der Lage sind: Denn was will der da, dieser Läufer, so ganz allein und schutzlos? Aber der Computer findet diesen Zug fabelhaft, es wird also schon einen guten Grund geben, sich so gefährlich weit nach vorne zu wagen.

Gukesh blieb trotzdem unbeeindruckt und spielte sehr kühl seine Stellung aus, während Ding Zug um Zug in die Defensive gedrängt wurde. So gut sein Läufer-Zug theoretisch sein mag, er machte die Koordination der Figuren schwierig. Zu schwierig für den Chinesen, der seinen Läufer dann auch irgendwann abschenken musste. Danach sah man zum ersten Mal wieder den Ding Liren der vergangenen Monate. Er wirkte geknickt, geradezu unglücklich.

Der Ruhetag am Donnerstag kam für den Chinesen genau im richtigen Moment, um sich zu sammeln und zu entscheiden, welche kleine Zauberei er in der nächsten Eröffnung präsentieren will. Einen echten Grund, geknickt zu sein, gibt es ohnehin nicht: Da begegnen sich zwei auf Augenhöhe, und es ist auch völlig egal, dass es nicht die nominell stärksten Spieler der Welt sind, die sich hier duellieren. Die Magie dieser Schach-WM entfaltet sich auch ohne diese Superlative. We have a match, es ist fantastisch!

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