Streit um Tag des Sieges

Russland übt die Parade für den 9. Mai, die Ukraine versucht, das Gedenken zu stören

»Siegeswalzer« vor dem Gorki-Park. Die Feierlichkeiten zum Tag des Sieges gehen über mehrere Tage.
»Siegeswalzer« vor dem Gorki-Park. Die Feierlichkeiten zum Tag des Sieges gehen über mehrere Tage.

Seit Tagen ist Moskau in ein rotes Meer aus Fahnen und Blumen gehüllt. Überall in der russischen Hauptstadt und im ganzen Land erinnern Banner und Plakate an den bevorstehenden Tag des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg, wie der deutsch-sowjetische Krieg in Russland heißt. Vor 80 Jahren befreiten sowjetische Soldaten Berlin und beendeten gemeinsam mit den Westalliierten die Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten.

Heute ist der 9. Mai der beliebteste Feiertag der Menschen in Russland. Eine aktuelle Umfrage des Lewada-Zentrums zeigt, dass 75 Prozent aller Befragten den 9. Mai als wichtigstes Datum im Feiertagskalender bezeichnen und damit 22 Prozent mehr als noch 2018.

Der 9. Mai gehöre zu den Dingen, auf die sich in Russland alle einigen können, erklärt die Politikwissenschaftlerin Jekaterina Schulmann in einem Beitrag für »Tscherta« einen der Gründe für die Beliebtheit. In der Sowjetunion, so Schulmann, war der 9. Mai eine Art weltliches Ostern – der Tag, an dem die Nation ihren symbolischen Tod und die Wiederauferstehung, den Verlust und den Sieg, gefeiert hat.

Militarisierung eines individuellen Festes

Für die Anthropologin Alexandra Archipowa liegt ein weiterer Grund darin, dass die Menschen den 9. Mai mit ihrem eigenen Gedenken füllen können und so aus einem staatlichen Feiertag ein individuelles Fest machen.

Unter Präsident Wladimir Putin erhielt der Tag seinen zunehmend militaristischen Charakter, das Motto »Wir können das wiederholen« setzte sich zunehmend durch. Mit den Jahren verstärkte sich auch die Militarisierung des Gedenkens bis hin zu den Jüngsten. In vielen Regionen gab es in den vergangenen Tagen Siegesparaden in Kindergärten, ganz im Stil des Moskauer Vorbilds. In Wladiwostok wurde eine Kinderparade abgehalten, samt Besuch einer Delegation aus Nordkorea.

Und die Regierung schlägt einen Bogen zum aktuellen Krieg in der Ukraine. Die »Helden der militärischen Sonderoperation« werden auf dem Roten Platz marschieren, vermeldeten russische Medien. Auch beim Unsterblichen Regiment – einer Graswurzelbewegung zum Gedenken an Soldaten des Zweiten Weltkriegs, die später vom Staat vereinnahmt wurde – sollen Porträts gefallener russischer Soldaten in der Ukraine gezeigt werden.

Parade kleiner, aber international

Die diesjährige Siegesparade wird die größte seit Beginn des Ukraine-Krieges sein. Mehr Technik gab es zuletzt 2021, hat »Agenstwo« nachgezählt. Allerdings, so viel ist auch klar: Im Vergleich zu den letzten Jubiläen 2015 und 2020 fällt die Parade kleiner aus.

Medienangaben sollen bis zu 10 000 Menschen über den Roten Platz marschieren, darunter Soldaten aus 13 Staaten. Aus Nordkorea, das seine Soldaten in das Gebiet Kursk entsandt hatte, werden keine militärischen Vertreter anwesend sein.

Auch Kim Jong-un, seit vergangenem Jahr enger Partner Moskaus, lässt sich durch seinen Botschafter vertreten. Dennoch werden nach Aussage des Kremls 29 Staatschefs (nicht alle von international anerkannten Ländern) auf der Tribüne anwesend sein. Kirgistan und Kasachstan verlegten ihre eigenen Siegesparaden extra auf den 7. Mai, damit die Präsidenten Sadyr Schaparow und Kassym-Schomart Tokajew nach Moskau reisen können.

EU will Beitrittskandidaten Teilnahme verbieten

Diskussionen gab es im Vorfeld um ein Verbot aus Brüssel. Von dort ging an die Länder des Westbalkans, die in die EU wollen, der Befehl aus, nicht nach Moskau zu fahren, weil »das nicht den Werten der EU entspricht«, wie Lettlands Außenministern Baiba Braže sagte. Gemeint war damit Serbiens Präsident Aleksandar Vučić, der sich dennoch nach Moskau aufmachte und dabei im Baltikum auf Probleme stieß, als Lettland und Litauen ihm die Überflugrechte versagten. Gleiches gilt für den slowakischen Ministerpräsidenten Robert Fico.

Auch in Armenien, das den EU-Betritt zuletzt in seiner Verfassung verankerte, reagiert man mit großem Unverständnis auf das Brüsseler Verbot. Der 9. Mai sei auch der Sieg Armeniens, für den 300 000 Armenier ihr Leben ließen. Der Tag des Sieges sei auch ein Tag des Stolzes für das Südkaukasusland, stellte der Sprecher der Nationalversammlung, Alen Simonjan, klar.

Waffenstillstand und Drohnenangriffe

Für weitere Aufregung sorgte Wladimir Putin, der für die Siegesfeierlichkeiten einen Waffenstillstand ausrief und damit die Ukraine unter Druck setzte. Das Angebot sei »zynisch«, kritisierte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj. Russland solle sich zu einer 30-tägigen Waffenruhe bereit erklären, wie sie die Trump-Administration vorgeschlagen hatte, hieß es aus Kiew.

Der Absage an Putins Waffenruhe folgte die Ankündigung, Moskau am Tag der Parade angreifen zu wollen, mitsamt Drohung an die anwesenden Staatschefs, man könne nicht für deren Sicherheit garantieren. Für Selenskyj, in dessen Arbeitszimmer ein Bild des brennenden Kreml hängt, wäre solch ein Angriff eine diplomatische Niederlage, die vor allem vom wichtigsten Unterstützer USA harsch kritisiert wurde. Später versuchte Selenskyj sich herauszureden und mögliche Explosionen von vornherein den Russen in die Schuhe zu schieben.

Einen kleinen Erfolg kann Selenskyj dennoch für sich verbuchen. Mit den massivsten Angriffen seit Kriegsbeginn – insgesamt 447 Drohnen und Raketen – legte die Ukraine am 7. Mai große Teile des westrussischen Flugverkehrs lahm. Und auch in Moskau gibt es Einschränkungen. Wegen des »aggressiven Nachbarn«, wie es Kreml-Sprecher Dmitri Peskow ausdrückte, wird in der Hauptstadt das mobile Internet abgeschaltet. Zugleich betonte Peskow, dass das Waffenstillstandsangebot weiter Bestand habe. Beobachter gingen bis zuletzt davon aus, dass Selenskyj im letzten Moment zustimmen wird.

Selenskyjs Gegenveranstaltung scheitert

Für die Ukraine sind der Tag des Sieges und die Parade in Moskau Teil eines Kampfes um die Deutungshoheit des Zweiten Weltkriegs. 2023 veranlasste Selenskyj per Dekret, den 8. Mai zu feiern. Dennoch wollte er Moskau den 9. Mai streitig machen, lud europäische Vertreter nach Kiew zu einer Art Antiparade ein. Doch aus der Gegenveranstaltung wird nichts, weil alle bedeutenden europäischen Staats- und Regierungschefs absagten, meldete das Portal Politico vor einigen Tagen. Ein herber Rückschlag für Selenskyj.

Statt in Kiew wird die ukrainische Führung ausländische Gäste vom Europarat und einige Außenminister in Lwiw zur Einrichtung eines Tribunals für die russische Regierung empfangen, berichtet der US-amerikanische Staatssender Radio Swoboda.

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