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Großbrand im Slum: Erinnerungen an den Katastrophentag

Tondo ist der größte Slum der philippinischen Hauptstadt. Ein Brand hat eine ganze Straße eingeäschert. Betroffene harren bis heute in Provisorien aus

  • Thomas Berger, Manila
  • Lesedauer: 8 Min.
Bis an den Slum »Tondo«, links im Hintergrund, rücken einige der vielgeschossigen Neubauten mit extrem teuren Luxuswohnungen heran. Blick vom Fort Santiago über den Fluss Pasig.
Bis an den Slum »Tondo«, links im Hintergrund, rücken einige der vielgeschossigen Neubauten mit extrem teuren Luxuswohnungen heran. Blick vom Fort Santiago über den Fluss Pasig.

Im Leben von Amelita Demain ist wieder Normalität eingekehrt. »Nach einer Woche haben wir mit dem Wiederaufbau begonnen«, erzählt die kleine, drahtig wirkende Frau bereitwillig. Zuvor hatte ein Großbrand nahezu die gesamte Habe ihrer Familie vernichtet. »Nur ein paar Kleinigkeiten haben wir noch retten können.« Zumindest sind alle körperlich unversehrt und mit dem Leben davongekommen. Der Rest ist ersetzbar: Das kleine Haus mit dem dunklen Inneren, das neu aufgemauert worden ist. Und auch der Sari-Sari-Shop, von dem sie und ihre Angehörigen ein bescheidenes Einkommen erhalten, das sie ein klein wenig besser dastehen lässt als etliche Anwohner ringsum. Es ist die philippinische Variante eines Tante-Emma-Ladens. Aus dem vorderen Teil der Wohnräume verkaufen sie mit geringer Gewinnspanne Zahnpasta, Eimer, Holzschuhe, Kaffeepulver und mancherlei mehr, was die Nachbarschaft so im Alltag braucht. Scheinbar ist alles wie vorher. Doch jenen 24. November, als in diesem Teil von Tondo, genannt Isla Puting Bato, das schlimmste Feuer seit Generationen ausbrach, werden sie und all die anderen Betroffenen nicht so schnell vergessen. An diesem Tag schien es, als wäre in ihrem ohnehin von Widrigkeiten und Hemmnissen geprägten Leben die Hölle losgebrochen. Stundenlang loderten die gefräßigen Flammen. Die schwarze Rauchsäule war weithin zu sehen.

Die philippinische Hauptstadtmetropole Manila, politisch-verwaltungstechnisch eigentlich ein Konglomerat aus 17 formal eigenständigen Städten, hat unglaublich viele Gesichter. Wer in den blitzsauberen Nobelvierteln von Makati unterwegs ist, kann das Panorama ringsum schon mal für einen Moment mit ähnlichen Hochhauskulissen in US-amerikanischen, europäischen oder chinesischen Großstädten verwechseln. Quirlig dagegen geht es in Binondo zu, Manilas bunter Chinatown mit vielen kleinen Läden und Märkten. In Intramuros, der mauerumspannten Altstadt mit vielen alten Gebäuden, atmet man noch immer Geschichte – unter anderem aus der frühen spanischen Kolonialära des Inselreiches im 16. Jahrhundert. Unmittelbar am Fort Santiago fließt träge der Pasig River vorbei. Und wer den Blick über das blaugraue Band des Flusses richtet, sieht schräg gegenüber am jenseitigen Ufer die Ausläufer von Tondo.

Der größte Slum Manilas

Tondo ist sozusagen ein Organ im Körper dieses urbanen 15-Millionen-Molochs, um das ausländische Besucher eher einen Bogen machen, wenn sie nicht einen triftigen Grund zum Eintauchen haben und vielleicht die namhafte Kirche im Zentrum ansteuern. Das Gassengewirr in der Umgebung wirkt tatsächlich nicht einladend. Knapp 650 000 Menschen drängen sich auf einer Fläche von 66 Hektar. Das macht Tondo zur Nummer zwei der am dichtesten besiedelten Stadtviertel. Kein Wunder: Im größten Slum Manilas leben die Familien auf engstem Raum. In Behausungen, die im besten Fall unter der Beschreibung bescheiden durchgehen mögen, zumeist aber ganz klar als Armutsquartier zu bezeichnen sind. Hier wohnen all jene, für die in den besser betuchten Stadtteilen kein Platz ist. Und wo vielfach schon bei der Geburt vorgezeichnet sein mag, kaum je aus diesem Kreis von Armut und Trostlosigkeit auszubrechen, in dem sich dennoch die meisten auf ihre Art ein Mindestmaß an Würde und Hoffnung keineswegs nehmen lassen. Auch Nachbarschaft und Miteinander haben hier noch echte Bedeutung.

Selbst im ausgedehnten Straßengewirr Tondos gibt es Orte, die ein kleines bisschen besser wirken als andere. Östlich des breiten Mel-Lopez-Boulevards, der den Hauptteil des Slums von den ausgedehnten Hafenanlagen Manilas trennt, zweigen ins Innere des Barangay Nummer 20 in regelmäßigen Abständen nur kleine, dunkle Gassen ab. »Say no to drugs« (Sag nein zu Drogen), steht als mahnende Botschaft über jedem dieser Portale zu einem besonders tristen Teil des riesigen Armenviertels, das sich wie die Arme eines Kraken auch entlang dieser Straße weiter ausdehnt. Noch einmal einen ganzen Block weiter, direkt neben dem Containerterminal mit den sich drehenden gigantischen Kränen zum Be- und Entladen der Schiffe, befindet sich jener Ausläufer, über den vor wenigen Monate die Katastrophe hereinbrach. Es war in den frühen Morgenstunden, als das Feuer ausbrach, lauten die übereinstimmenden Angaben der Befragten. »Und es brannte acht oder neun Stunden bis in den frühen Abend«, kann sich Rafael Pillera noch lebhaft erinnern. Der schlaksige Jugendliche ist 17, hat es sich mit seinem ein Jahr älteren Freund Justin Hilargo gerade auf dem Sitz eines Mopeds bequem gemacht, das schräg vor dem Gebäude der Familie von Amelita Demain abgestellt ist. »Viele Leute haben nur geschrien, als sie ins Freie gerannt sind«, erzählt Justin. Die Ursache sei bis heute nicht vollauf geklärt, »aber es gibt jede Menge Gerüchte«. Bei Rafael sind auch noch die Bilder präsent, wie etwas später sogar ein Helikopter über dem Unglücksareal kreiste und die Feuerwehrleute lange Schläuche ausrollen und verkuppeln mussten. Das war notwendig, weil sie zum Löschen mit den großen Fahrzeugen nicht in die dafür viel zu schmalen Gassen hineinkamen, die selbst für ein Tricycle, die philippinische Version einer Motorradrikscha, nur einspurig befahrbar ist. Zum Glück gab es in der Nähe eine Wasserpumpe.

Es brannte acht oder neun Stunden bis in den frühen Abend.

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Wer wissen will, wie sich dieser abgelegenste Vorposten von Tondo entwickelt hat, ist tatsächlich bei Amelita genau an der richtigen Adresse. »Schon seit 1996 wohne ich hier«, berichtet die heute 61-jährige Witwe, die damals mit ihrem Mann vom erwähnten Barangay 20 nahe der Hauptstraße weggezogen ist – auf eine Brachfläche zwischen Fähranleger und Containerhafen. »Dort lebten damals nur ganz wenige Leute.« Doch auch auf der Brache im Niemandsland wuchsen nach und nach die aus verschiedenen provisorischen Baumaterialien zusammengezimmerten vier Wände der Familien in die Höhe. In ihrem Fall sind es sieben Personen, die sich die paar Quadratmeter teilen. Dazu gehören ihr Sohn, die Schwiegertochter und deren Kinder – die älteste Enkelin Madilin, zwölf Jahre alt, tritt gerade hinzu, während ihre Oma weiter in den Erinnerungen fast 30 Jahre zurück kramt. »Als wir herkamen, waren wir so etwas wie Pioniere.« Mit etwas Rücklagen, die der Miniladen abwirft, und der denkbar knapp bemessenen Entschädigung der Regierung haben sie den Wiederaufbau finanziert. »Neun Tage haben wir auf Matten am Uferweg geschlafen.« An diese Episode denkt sie ungern zurück.

Dutzende andere harren selbst nach einigen Monaten noch immer auf der Straße aus: Ein Abschnitt des Bürgersteigs hat sich in eine Art Campingplatz verwandelt. Zelt reiht sich an Zelt. Was als Notbehausung einer kurzen Übergangszeit gedacht war, ist zu einem fragwürdigen Provisorium längerer Dauer geworden. Kleine Kinder spielen im Rinnstein, eine junge Mutter stillt ihr Baby. Und vor einem der Zelte erledigt der 64-jährige Nehimias Prohas mit einem Eimer den Abwasch, wirft noch einen prüfenden Blick auf Teller und Besteck, von denen das Seifenwasser tropft. »Caritas« prangt als Schriftzug auf dem Eimer. Es waren Hilfsorganisationen, die das Allernotwendigste zum unmittelbaren Überleben beigesteuert haben. Wegen anderer Nachwirkungen des Brandes fühlen er, seine 49-jährige Lebensgefährtin Papai Saligan Canacan und die übrigen Menschen sich im Stich gelassen. »25 000 Pesos pro Familie, das reicht eben nicht«, sagt der älter wirkende Mann resigniert. Das ist die Entschädigung, die es für die Brandopfer von der Regierung gab, umgerechnet nicht einmal 500 Euro. In ihrem Fall ließ sich ein völlig niedergebranntes Haus damit nicht neu errichten. Und tatsächlich klaffen entlang der schmalen Gasse ein Stück weiter immer noch mehrere sichtbare Lücken. Aber auch der Notbehelf auf dem Bürgersteig ist finanziell nicht ganz umsonst zu haben. Für Toilettengang und eine Dusche müssen sie genauso bezahlen wie für das Wasser, mit dem er gerade den Abwasch erledigt hat.

Wahlen im Mai

»Wir haben Glück gehabt«, sagt wiederum Corazon Sanchez (66). Die ältere Frau lebt mit ihrer Tochter, der 33-jährigen Cheryl Magdarajo und den Enkelkindern im letzten Haus auf der westlichen Seite der Gasse, das an jenem schrecklichen Novembertag weitestgehend verschont geblieben ist. Nur die Rückwand musste etwas ausgebessert werden, erzählen Cheryl, die nebenbei dem jüngsten Nachwuchs die Brust gibt, und ihre Mutter. »Aber auch wir waren in großer Sorge.« Vor 20 Jahren ist die Familie aus der Region Bicol nach Tondo gekommen und ist dort hängengeblieben, wie so viele. Der Verkauf von gekochtem Gemüse sichert zwar einen Mini-Verdienst, der Erlös fällt aber sogar noch bescheidener aus als beim Sari-Sari-Shop gegenüber. Es fehlt den Menschen in der Gasse an so vielem.

Längst ist die Dämmerung angebrochen, Dunkelheit macht sich in den armseligen Wohnstuben breit, denn auch Elektrizität gibt es hier nicht. Wer es sich leisten kann, hat immerhin einen kleinen Dieselgenerator. Und über manchem der Zelteingänge auf dem Bürgersteig hängt ein winziger Solarkollektor.

Am 24. November 2024 erfasste ein Feuer Hunderte von Häusern in einem dicht bebauten Slumgebiet der philippinischen Hauptstadt Manila.
Am 24. November 2024 erfasste ein Feuer Hunderte von Häusern in einem dicht bebauten Slumgebiet der philippinischen Hauptstadt Manila.

Auch in diesem besonders geplagten Teil von Tondo künden zahlreiche Plakate mit Gesichtern, Namenszügen und kurzen Parolen davon, dass im Mai auf den Philippinen erneut gewählt wird. Es ist, nach dem »großen« Wahlgang 2022, der den gleichnamigen Diktatorensohn Ferdinand Marcos Jr., Spitzname Bongbong, ins Präsidentenamt gebracht hat, die sogenannte Zwischenwahl. Selbst im größten Armenviertel Manilas hat seinerzeit eine solide Mehrheit bei ihm das Kreuz gemacht. Marcos, einer der reichsten Familiendynastien des Landes entstammend – mehrere Milliarden Dollar sollen sein im US-Exil verstorbener Vater, seine Mutter Imelda sowie seine Geschwister und er damals beiseite geschafft haben –, geriert sich gern als Fürsprecher der kleinen Leute. Auch jetzt, da in wenigen Wochen das komplette Repräsentantenhaus, die Hälfte des Senats sowie jede Menge regionale und kommunale Ämter neu zu besetzen sind, zählen natürlich auch wieder die Stimmen der Menschen aus dem Slum. Für ihre Probleme aber interessiert sich von den Politikern im Grunde niemand ernsthaft. Das betrifft nicht nur die vielen »normalen« Alltagssorgen, sondern auch die Folgen des Großbrandes. Der ältere Sohn von Cheryl geht in die zweite Klasse, seine Schule liegt ein kleines Stück außerhalb. Ob er es dereinst aus dem Kreislauf der Armut in Tondo hinausschaffen wird? Im Moment wirft der äußerst still wirkende Junge nur einen Blick auf seine Oma Corazon, die zum Abschied winkend die Hand hebt.

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