Systematische Unterdrückung von Palästina-Solidarität

Neue Datenbank dokumentiert 766 Fälle von Polizeieinsätzen, Zensur und Verboten

Festnahme bei einem Protest gegen den Gaza-Krieg in Berlin.
Festnahme bei einem Protest gegen den Gaza-Krieg in Berlin.

In Deutschland gab es seit 2019 mindestens 766 Vorfälle, in denen unverhältnismäßig gegen palästinasolidarische Proteste oder Kritik an Israels Krieg in Gaza vorgegangen wurde. Das European Legal Support Center (ELSC), eine europäische Rechtshilfe-Organisation mit Hauptsitz in den Niederlanden, hat sie in einer öffentlichen Datenbank zusammengeführt. Besonders betroffen sind laut diesem »Index der Repression« Aktivist*innen (385 Fälle), Studierende (92) und Kulturschaffende (83). Hauptverantwortlich für die Repression sind laut ELSC Polizei (338 Fälle), staatliche Stellen (92) und bestimmte Medien (81).

An der Vorstellung des Projekts am Dienstag in Berlin nahm auch Forensic Architecture teil – die ebenfalls in der Hauptstadt ansässige Forschungsagentur hat die Ergebnisse der Untersuchung aufwändig visualisiert. Dadurch wird sichtbar, wie die Repression mit politischen Ereignissen wie dem Gaza-Krieg korreliert. »Das ist kein Zufall, sondern systematisch«, sagt ELSC-Direktor Giovanni Fassina. »Wir sehen, wie Kritik an Israel pauschal als antisemitisch diffamiert wird – das ist ein gezieltes Mittel, um Solidarität mit Palästina zu kriminalisieren.« Alle Einträge wurden nach Angaben der Initiator*innen zuvor mehrfach verifiziert.

Betroffene können über ein Formular auf der Webseite des ELSC weitere Repressalien melden – die dokumentierten Fälle seien nur »die Spitze des Eisbergs«, so die Initiator*innen. Sie zeigten ein klares Muster der Unterdrückung: Von Zensur und Diffamierung über polizeiliche Gewalt bis hin zu beruflichen Konsequenzen reichten Methoden, mit denen Aktivist*innen, Studierende, Künstler*innen und andere zum Schweigen gebracht werden sollten.

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Die Datenbank sortiert die Fälle in acht Kategorien von Repression. Besonders häufig sind drei Formen: In 175 Fällen dokumentiert das ELSC Zensur und gezielte Desinformation. Dazu gehören Veranstaltungsabsagen, die Löschung von Social-Media-Beiträgen oder mediale Hetzkampagnen. Ein Beispiel ist das Verbot des Slogans »From the River to the Sea, Palestine will be free«, den deutsche Behörden pauschal als antisemitisch einstufen, obwohl er vor Jahrzehnten als Aufruf zu Gerechtigkeit entstand und von vielen auch heute so verstanden wird.

In 154 Fällen kam es laut der Dokumentation zu Festnahmen oder polizeilichen Übergriffen, etwa bei Demonstrationen zu Beginn des israelischen Einmarschs in Gaza im Oktober 2023, als in Berlin wochenlang pauschal Proteste dagegen verboten wurden. 137 Fälle betreffen berufliche oder finanzielle Repressalien – wie die Kündigung einer Berliner Künstlerin, deren Ausstellung wegen ihrer Haltung zu Palästina abgesagt wurde, oder Banken und Onlineplattformen, die Konten für Spendensammlungen schlossen.

Das ELSC verzeichnet auch 107 Fälle von Überwachung, Drohungen oder Doxing – gemeint ist das Veröffentlichen von Namen von Einzelpersonen, wie es etwa in Springer-Medien regelmäßig erfolgt. Gezählt werden zudem 89 verhinderte Demonstrationen oder abgesagte Veranstaltungen, 70 juristische Einschüchterungsversuche und je 17 Fälle von Jobverlusten oder Sanktionen an Schulen und Universitäten.

Als einen Brennpunkt nennt das ELSC auch deutsche Universitäten: Studierende und Lehrende würden für pro-palästinensische Äußerungen auf Social Media oder ihre Teilnahme an Demonstrationen diszipliniert. Vorlesungen und akademische Veranstaltungen zum Thema Palästina würden abgesagt, auch bei Protesten an Hochschulen komme es immer wieder zu polizeilicher Gewalt. »Die Freiheit von Lehre und Forschung wird massiv beschnitten«, kritisiert das europäische Netzwerk.

Das ELSC sieht in der Repression gegen Palästina-Solidarität einen Ausdruck kolonialer Kontinuität. Ziel sei es, die palästinensische Identität zu zerstören, zu verzerren und auszulöschen, um für Zustimmung zu Siedlerkolonialismus und Genozid zu sorgen. Häufig genügt in Deutschland schon die Verwendung derartiger Reizwörter, um als »antisemitisch« bezeichnet und verfolgt zu werden. Das bekam auch Eyal Weizman, Gründer von Forensic Architecture, zu spüren: Weil sich der in Israel geborene Architekt vehement und öffentlich gegen den verheerenden Krieg in Gaza einsetzt, wird er in Deutschland von Gruppen, die in diesem Konflikt nur die palästinensische Hamas kritisieren, heftig angegriffen.

Der »Index der Repression« soll Fälle nicht nur dokumentieren, sondern auch Grundlage für juristische Schritte sein. Zunächst ist das Projekt auf Deutschland beschränkt, in den kommenden Monaten soll es um weitere europäische Länder ergänzt werden.

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