»The Turn of the Screw«: Ja, mach nur einen Plan!

Besser gemacht als gedacht: An der Oper Halle wird Benjamin Brittens »The Turn of the Screw« gegeben

  • Kai Köhler
  • Lesedauer: 5 Min.
Franziska Krötenheerdt wacht als Gouvernante über die normierte Welt der Kinder.
Franziska Krötenheerdt wacht als Gouvernante über die normierte Welt der Kinder.

Die Schraube, so kündigt der Titel an, dreht sich; und mit jeder Drehung sitzt sie ein wenig fester. Benjamin Brittens Kammeroper nach der gleichnamigen Novelle von Henry James besteht aus einem Prolog und zwei Akten mit je acht meist sehr kurzen Szenen. Schritt für Schritt wird die Ausgangslage verdichtet.

Eine Gouvernante wird zu einem Landhaus geschickt, wo sie sich um die Erziehung von zwei Kindern kümmern soll. Auftraggeber ist der Vormund der Kleinen, der klarstellt, dass er mit der Sache nicht weiter behelligt werden will. Bald zeigen sich indessen Probleme der schlimmsten Art, nämlich der nicht erklärbaren.

Sowohl der Diener Peter Quint als auch die frühere Erzieherin, Miss Jessel, bewegen sich durchs Haus, obgleich sie doch tot sind. Und, schlimmer noch: Sie haben Verbindung mit den beiden Kleinen und scheinen nicht ganz unschuldig an deren Widersetzlichkeiten. Die Gouvernante schwankt: Soll sie sich dem Problem entziehen? Darf sie das Verbot übertreten und den Vormund benachrichtigen? Wie kann sie den Kampf aufnehmen und den kleinen Miles, die kleine Flora retten?

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Klar ist, dass es in der Novelle von 1898 um ein anderes jenseits der moralisch repressiven viktorianischen Gesellschaft geht und der Stoff den homosexuellen Komponisten 1954, als sein Lieben in Großbritannien immer noch illegalisiert war, interessieren musste. Tatsächlich klingt die Musik, mit der Britten Peter Quint ausstattete, verlockender als die Welt der Gouvernante oder der biederen Haushälterin Mrs. Grose. Aber wie geht man heute mit dem Werk um?

Glaubt man dem Programmheft, so wollte die Regisseurin Katharina Kastening das Landhaus in ein modernes Smart Home verwandeln. Peter Quint und Miss Jessel werden zu KI-Programmen. Sie wurden aufgegeben, weil sie zur Erziehung der Kinder nicht taugten, entwickeln sich aber selbstständig weiter. Die Gouvernante ist die neue, moralisch einwandfreie Erziehungs-KI.

Dies scheint auf den ersten Blick eine überzeugende Aktualisierung. Die moralistische Zurichtung von Menschen läuft mehr und mehr über Technik, die qua Überwachung und Propaganda Verhalten an eine vorgebliche Normalität anpasst. Und die »Künstliche Intelligenz« ist keineswegs intelligent, sondern stellt Sätze aufgrund statistischer Wahrscheinlichkeiten zusammen. Indem sie sich dabei ausschließlich auf vorhandenes Datenmaterial stützen kann, ist sie technisch bedingt konservativ. Sie spuckt als Wahrheit das aus, was bisher in der Mehrheit der Fälle als wahr galt.

Was man tatsächlich sieht, hat indessen mit den Absichtserklärungen wenig zu tun. Das beginnt mit dem Bühnenbild von Matthias Kronfuß, der mehrere Räume dieses Smart Homes auf einer fleißig benutzten Drehbühne verbaut hat. Alle diese Räume sind nach vielen Seiten offen, erlauben so vielfältige Bewegungen, vermitteln aber gerade nicht das Beengende einer technisch kontrollierten und gesteuerten Wohnung.

Dazu kommt, dass ein singendes KI-Programm auf der Bühne schwer darstellbar ist. Die Gouvernante, Peter Quint und Miss Jessel sind alle körperlich präsent und wirken so als Menschen mit ihren durch Text und Musik vermittelten Widersprüchen. Es spricht durchaus für Kastenings Regie, dass man, hätte man vorher dazu nichts gelesen, jedenfalls an Computerprogramme nicht denken würde.

Und noch in einem anderen Punkt ist die Regie klüger als ihr Abriss. Der Aufstand gegen die Norm gilt im Konzept als gut, die KI-Gouvernante entsprechend als repressiv. In der Oper hingegen ist die hauptsächliche Perspektive die der Gouvernante. Ihre emotionale Bindung an den Vormund wird ebenso angedeutet, wie ihr Wille betont, die Kinder zu retten. Das daraus folgende Verhalten mag unzureichend sein. Eine KI würde neutral nach Wahrscheinlichkeiten handeln. Die Erzieherin will fürsorglich sein, und wenn sie gerade dadurch unterdrückt, dann mit Gründen. Peter Quint steht für verlockende Freiheit ebenso wie für tatsächliche Gefahr. In der Oper ist der junge Miles am Ende tot. In Halle verlässt er sowohl Quint als auch die Gouvernante und geht allein in eine ungewisse Zukunft.

Britten verwendet ein Kammerorchester mit solistisch besetzten Streichern und Bläsern, einer prominent hervortretenden Harfe und, neben Tasteninstrumenten, reichlich Schlagzeug, das aber eher koloristisch als massiv eingesetzt wird. Mitglieder der Staatskapelle Halle unter José Miguel Esandi vermittelten die klangfarblichen Schattierungen der Partitur und zeigten ihre verschiedenen Ebenen, vom leicht angeschrägten rustikalen Volksliedton bei den Spielen der Kinder bis zur kaum greifbaren, verführerisch schillernden Musik im Umfeld Peter Quints, dem Robert Sellier szenisch und stimmlich eine entsprechende Präsenz verlieh.

Franziska Krötenheerdt als Gouvernante konnte erkältet nur stumm auf der Bühne agieren, während Emily Dorn im Orchestergraben für die umfangreiche Partie überzeugend einsprang.

Eine Schwierigkeit des Werkes sind die wichtigen Kinderrollen. Sie sind in Halle mehrfach besetzt. Am Premierennachmittag traten Elias Briki als Miles und Miriam Knackstedt als Flora auf. Beide bewegten sich in der Szenerie mit professioneller Sicherheit, vermochten stimmlich das Opernhaus zu füllen und trafen dabei die jeweils angemessenen emotionalen Lagen – von forcierter Munterkeit, scheinbarem Bravsein bis zum Bedrohlichen. Gabriella Guilfoil als Mrs. Grose und Anke Berndt als Miss Jessel ergänzten das durchweg beeindruckende Ensemble.

Gesungen wird in Halle eine deutsche Fassung, im Zeitalter der Übertitelung eigentlich unnötig. Der Text folgt zwar den musikalischen Akzenten, das Lautmalerische des Librettos von Myfanwy Piper geht allerdings verloren. Wenn sich insgesamt in der Aufführung Szene und Musik gegen die Inszenierungsidee behaupten, so bedeutet dies kein Scheitern, sondern spricht gerade für die Qualität der Arbeit.

Nächste Vorstellungen: 17., 25. und 31.5.
www.buehnen-halle.de

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