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Wie offen bist du, ESC?
Politik ist, wenn man trotzdem singt oder stöhnt: Der 69. Eurovision Song Contest stand vielfach unter Druck und dann gewann der Favorit JJ
Am Samstagabend hat der junge österreichische Countertenor JJ mit seinem Song »Wasted Love« in Basel den 69. Eurovision Song Contest (ESC) gewonnen – mit viel Pathos, einer unglaublichen stimmlichen Leistung und einem spektakulären Auftritt. Überraschend war das nicht, sein Song galt unter den Fans des ESC schon länger als Favorit.
Der deutsche Beitrag »Baller« von Abor & Tynna dagegen erreichte einen stabilen 15. Rang. Das kam etwas unerwartet, denn in den Wettquoten hatte der Song bis zum Schluss keine Rolle gespielt. Für das österreichische Geschwisterpaar mit Wohnsitz Berlin ist das ein Achtungserfolg. Stefan Raab aber, der den deutschen Vorentscheid mit großem Getöse ausgerichtet hatte, dürfte seine Karriere allerdings noch ein Stück mehr ins Aus geballert haben. Ob Raab, dessen Show »Du gewinnst hier nicht die Million« vor Kurzem abgesetzt wurde, weiterhin mit dem ESC zu tun haben wird, ist offen. Er war ziemlich breitbeinig angetreten und hatte den von ihm präsentierte Vorentscheid zur »Chefsache ESC 2025« erklärt. Und das Ganze mit markigen Worten angekündigt: »Sollten wir nur Zweiter werden, können Sie mich gerne danach abstrafen.«
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Der Weg dahin ist aber weiterhin zu weit. Doch man kann es durchaus als Erfolg sehen, dass »Baller« zwölf Jury-Punkte aus der Ukraine und Tschechien zugesprochen bekommen hat. Israel und Serbien bewerteten den Song mit je 10 Punkten. Das hatte es für einen deutschen Beitrag seit Jahren nicht mehr gegeben. Mit 77 Jury-Punkten und 74 Publikumspunkten erreichte der Song zwar insgesamt mehr Punkte als der deutsche Vorjahresteilnehmer Isaak, platzierte sich aber etwas schlechter.
Obwohl das deutsche Team für Bühnenbild und Performance brillante Ideen hatte, wirkten Abor & Tynna im Vergleich zu Acts wie Erika Vikman aus Finnland mit ihrer Orgasmusdonnerballade »Ich komme« schlicht hölzern. Hinzu kam Pech. Wegen einer Kehlkopfentzündung mussten die beiden auf die ESC-Pre-Partys verzichten, die eine wichtige Gelegenheit sind, sich der ESC-Bubble zu präsentieren. Der ESC ist ein in sich geschlossener Kosmos mit eigenen Zyklen, eigenen Stars und eigenen Ritualen, in den die teilnehmenden Künstler aufgenommen werden. Jamie-Lee Kriewitz, die deutsche ESC-Teilnehmerin 2016, brachte es damals treffend auf den Punkt: »Die Fans lieben den ESC – nicht die Stars.« Der Kontakt zur Außenwelt findet einmal im Jahr beim Finale statt.
Die Kompositionen waren diesmal überwiegend schwächer als in den Vorjahren, aber viele Acts machten das durch spektakuläre Choreografien und Kostüme wett. Positiv stachen die Glamrock-Ballade »Volevo essere un duro« von Lucio Corsi sowie die Britinnen von Remember Monday mit dem Beatles-Queen-Elton-John-Mix »What the Hell Just Happened?« hervor. Einen der unvergesslichsten Auftritte lieferte der estnische Sänger Tommy Cash, dessen Beine offenbar aus hochelastischem Gummi bestehen. Mit seiner witzigen Kaffeehommage »Espresso macchiato« verzauberte er das Publikum und erreichte Platz 3.
Moderiert wurde die spektakuläre und überraschend kurzweilige Finalshow in der St. Jakobshalle in Basel von Michelle Hunziker, Sandra Studer und vor allem Hazel Brugger. Das Trio führte die Zuschauer mit launigem Humor durch den langen Abend. Laut dem Veranstalter des ESC, der Europäischen Rundfunkunion (EBU), sollte das Trio die Schweizer Werte Offenheit, Vielfalt, Mehrsprachigkeit und Zusammengehörigkeit symbolisieren. Die Offenheit einiger ESC-Fans und auch einiger Teilnehmer stieß allerdings wie schon im Vorjahr an ihre Grenzen. Denn die größte Zerreißprobe für die ESC-Doktrin »United By Music« war erneut die Teilnahme Israels.
Zwar katapultierte das Publikumsvoting die israelische Sängerin Yuval Raphael mit ihrer Powerballade »New Day Will Rise« überraschend auf den zweiten Platz, doch wann immer die Sängerin bei den Proben, im Semifinale oder in der Show auftauchte, wurde deutlich hörbar gepfiffen und gebuht. Am Abend der Veranstaltung demonstrierten mehrere hundert Menschen. Bereits im Vorfeld hatten der ESC-Sieger des Vorjahres, Nemo, sowie 70 ehemalige Teilnehmer wegen des Kriegs in Gaza Israels Ausschluss gefordert. Auch einige EBU-Mitglieder und EU-Parlamentarier äußerten Kritik. In Basel tauchten Plakate mit dem Slogan »ESCalate for Palestine« auf. Yuval Raphael hat das Hamas-Terrormassaker vom 7. Oktober 2023 nur knapp überlebt, weil sie sich in einem Schutzraum unter den Leichen versteckte.
Israels Partner bei der EBU und Ausrichter des israelischen Vorentscheids ist der öffentlich-rechtliche Fernsehsender Kan 11, der durch die rechtsautoritäre Regierung Netanjahu unter starkem Druck steht. Es gebe keinen Platz für einen öffentlich-rechtlichen Rundfunk in der israelischen Medienlandschaft, erklärten Regierungsvertreter. Angestrebt werde eine vollständige Privatisierung der Sendeanstalten. Die EBU unterstützt Kan 11 und seine Unabhängigkeit.
Der deutsche Kulturjournalist Jens Balzer kritisierte in einem Interview mit einer Schweizer Tageszeitung die Haltung der propalästinensischen Demonstranten: »Die tapfere Yuval Raphael tritt vor einer wirklich hasserfüllten Menge auf, die ihr gegenüber Halsabschneide-Gesten macht«. Da zeige sich ein eklatanter Mangel an Menschlichkeit. Man könne dieser Frau nur den allergrößten Respekt zollen. »Stattdessen wird sie mit der aktuellen israelischen Regierung identifiziert.«
Doch das war nicht das einzige Politikum rund um den ESC. Bereits im vergangenen Jahr hatte die christlich-konservative Splitterpartei EDU versucht, den ESC in der Schweiz mit einer Initiative zu stoppen – wegen »Propaganda für Homosexuelle und Non-Binäre«, »okkulten Botschaften« und »Glaubensverunglimpfung«. Der Vorstoß wurde in einer Volksabstimmung von der Bevölkerung Basels abgeschmettert.
Auch in Italien wurde von der rechtsautoritären Meloni-Regierung an der Freiheit des ESC geschraubt. Die Regierung Meloni ersetzte den als zu links geltenden Vorentscheid-Moderator durch einen politisch mehr konformen Conférencier, wodurch die Veranstaltung wesentlich braver ausfiel als sonst.
Nicht nur die Politik, auch die EBU zeigte sich konservativer und machte einigen Acts das Leben schwer. Finnlands Teilnehmerin Erika Vikman musste ihre Performance zum Song »Ich komme« entschärfen. Am drastischsten traf es Miriana Conte aus Malta. Ihr Song »Kant« spielte mit der Doppeldeutigkeit zwischen dem maltesischen Wort für Gesang und dem obszönen englischen Begriff für das weibliche Geschlechtsorgan (»cunt«). Die EBU zwang sie zu einer kompletten Überarbeitung. Der Song heißt nun »Serve«, das Wort »Kant« wurde durch ein Stöhnen ersetzt.
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