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Machtkampf in Libyen
Hauptstadt Tripolis im Würgegriff der Milizen. US-Präsident Trump will eine Million Palästinenser nach Libyen umsiedeln
Nach mehreren Tagen schwerer Kämpfe herrschte in der libyschen Hauptstadt Tripolis am Wochenende gespannte Ruhe. Radpanzer und mit Flugabwehrgeschützen ausgerüstete Toyota-Pick-ups der so genannten Rada-Miliz haben sich in ihren Stützpunkt am Flughafen von Tripolis zurückgezogen. Auf dem Flughafen Tripolis-Mitiga landeten nach einer Woche erstmals wieder zivile Maschinen. Premierminister Abdelhamid Dbaiba versicherte den im Stadtzentrum gegen die Gewalt demonstrierenden Bürgern ein Ende der Milizenherrschaft.
Doch auch die mehrere tausend Mann starke Gruppe des Salafisten Abdul Rauf Kara, mit dem Dbaiba gerade einen Waffenstillstand schließen ließ, steht unter dem Namen Stabilisierungsgruppe auf der Lohnliste mehrerer Ministerien. Wie viele andere nach dem Aufstand gegen Langzeitherrscher Muammar Al-Gaddafi entstandene Gruppierungen des Milizenkartells von Tripolis lässt sich Kara von der politischen Elite nichts vorschreiben. Mit der Einsetzung ihrer Kommandeure in hohe Posten bei staatlichen Firmen und der Umleitung von Geldern auf ihre Konten sind die Milizen in den letzten Jahren reich geworden.
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Viele Tote bei Straßenkämpfen
Am Dienstag vergangener Woche hatte die Dbaiba nahestehende Brigade 444 versucht die Kasernen von Karas Leuten blitzartig zu stürmen. Während die über zwei Millionen Einwohner von Tripolis in ihren Wohnungen und Häusern in Deckung gingen, rollten Panzer durch die Straßen. Ärzte der in den besonders umkämpften Stadtteilen Abu Slim und Suq Al-Dschuma liegenden Krankenhäuser schätzten am Telefon gegenüber »nd«, dass bei den Straßenkämpfen mindestens 55 Tote und über 130 Verletzte gab. Offizielle Opferzahlen haben weder die Regierung noch die neu entstandene Allianz veröffentlicht, die Kara nach dem Angriff schmieden konnte.
Am Vorabend sah der seit 2021 amtierende Premierminister Dbaiba noch wie der klare Sieger über das Milizenkartell aus. Der Anführer der größten Miliz der Stadt, Abdel Ghani Al-Kikli, war in einer Kaserne erschossen worden, als er einer Aufforderung nachgekommen war, über die Niederlegung seiner Waffen zu verhandeln. Auch Al-Kikli und seine Miliz namens Stabilitäts-Unterstützungsapparat wurde vom Innenministerium bezahlt. Doch mit der eigenmächtigen Neubesetzung des Vorstandspostens des staatlichen Telekommunikationsriesen LPTIC hatte der berüchtigte Milizenführer die Regierung herausgefordert. Dbaiba beschloss, der Herrschaft der bewaffneten Gruppen ein Ende zu setzen, vielleicht auch um einer Verschwörung gegen ihn zuvorzukommen.
Viele Libyer fordern Neuwahlen
Minuten nach Al-Kiklis Tod stürmte die Brigade 444 mit Radpanzern die Kasernen von Al-Kiklis Truppe in Abu Slim. Mehrere Kämpfer von Al-Kikli flohen vor der vermeintlichen Übermacht der von türkischen Militärs trainierten Brigade. Wenig später trat Premier Dbaiba vor die Kameras und forderte alle bewaffneten Gruppen auf, sich aufzulösen und dem Innenministerium zu unterstellen. Aus ihrem Überraschungserfolg schloss die Dbaiba-Allianz nun auch, die zweitgrößte Miliz Rada besiegen zu können.
Diese zweite Schlacht am Dienstag verloren Dbaibas Einheiten jedoch. Ehemals verfeindete Milizen schmiedeten über Nacht eine neue Allianz gegen Dbaiba. Ihr Motto: Die einfachen Leute gegen die korrupte politische Elite, die Dbaiba repräsentiert: Geschäftsmann und Multi-Millionär aus der Hafenstadt Misrata. Auf dem Märtyerplatz fordern nun viele Neuwahlen und einen Rücktritt der gesamten politischen Elite. Zu groß war der Schock darüber, dass erstmals seit dem Tod von Staatschef Muammar Al-Gaddafi vor 14 Jahren inmitten der engen Gassen im Zentrum von Tripolis schwere Waffen zum Einsatz kamen. Einen Sieger gibt es in dem Machtkampf nicht.
Mit der Einsetzung ihrer Kommandeure in hohe Posten bei staatlichen Firmen sind die Milizen in den letzten Jahren reich geworden.
Dbaibas Kritiker machen ihn für die grassierende Korruption in Westlibyen verantwortlich, doch auch sie schauen mit Sorge auf seinen möglichen Sturz. Denn eine ernsthafte politische Alternative gibt es derzeit nicht. Zahlreiche Vertreter politischer Parteien und die politische Opposition sind in den letzten Jahren in den Gefängnissen der Milizen verschwunden oder geflohen, die Milizen agieren als Staaten im Staat.
International wächst nun die Sorge vor einem neuen Bürgerkrieg in Libyen mit internationalen Implikationen. Dbaiba wird von der Türkei unterstützt, die 2019/20 mit massiver Militärhilfe dafür gesorgt hatte, dass Tripolis und Misrata nicht an den in Ost- und Südlibyen starken Feldmarschall Khalifa Haftar fiel, der von Russland unterstützt wird und damals von Osten her ganz Libyen erobern wollte.
Türkei unterstützt Premier Dbaiba
Ausbilder der türkischen Armee sind seit Jahren auch für Dbaibas Verbündete im Einsatz. Im Gegenzug unterstützt die Zentralbank des ölreichen Libyens die türkische Regierung mit diversen Krediten und unklaren Zahlungen. Nach Angaben von gut informierten Offizieren gegenüber dem »nd« landeten in der letzten Woche mehrere türkische Militärflugzeuge mit Waffen in der Hafenstadt Misrata; Konvois aus Misrata seien im knapp 200 Kilometer entfernten Tripolis eingetroffen, um Dbaiba gegen die Hauptstadtmilizen zu unterstützen.
Denn der ehemalige Kriegsgegner, der in Ostlibyen herrschende Feldmarschall Khalifa Haftar, könnte ein mögliches Machtvakuum für sich nutzen. Iljuschin-76-Militärtransporter seiner »Libyschen Nationalarmee« fliegen seit Dienstag Militärgerät aus dem Osten des Landes in das zentrallibysche Sirte. Eine Allianz Haftars mit der Rada-Miliz in Tripolis gäbe einem vom Parlament für nächste Woche geplanten Ernennung eines Nachfolgers für Dbaiba Rückendeckung.
Feldmarschall Khalifa Haftar ist gerade aus Moskau zurück
Haftar ist gerade von einer einwöchigen Reise aus Moskau zurückgekehrt und gilt der russischen Regierung als Verbündeter. Oder macht Haftar mit Dbaiba gemeinsame Sache? Viele Libyer sind mittlerweile völlig ratlos, wie es weitergehen soll. Die Mehrheit will nur eins: Neuwahlen. Diese waren zuletzt im Dezember 2021 von der Wahlbehörde HNEC organisiert, aber nach Drohungen von Milizen abgeblasen worden. Die Leiterin der UN-Mission in Libyen, UNSMIL, Hannah Tetteh, hielt vor dem UN-Sicherheitsrat am Donnerstag eine wütende Rede. »Genug von den temporären Lösungsversuchen. Sie führen immer wieder zu demselben Ergebnis, der Macht des Stärkeren.«
In Tripolis sorgt derzeit die einzige Reaktion aus Washington zu der dramatischen Lage in Libyen für Kopfschütteln. Laut dem amerikanischen TV-Sender NBC soll US-Präsident Donald Trump inmitten des Machtkampfs im Bürgerkriegsland die Umsiedlung von einer Million Palästinenser aus dem Gazastreifen nach Libyen vorgeschlagen haben.
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