- Wissen
- Revolution und Religion
500 Jahre Bauernkrieg: Kommunistische Fantasien
Wie Friedrich Engels am Bauernkrieg von 1525 das Verhältnis von Revolution und Religion auslotete
Bekanntlich bezeichnete Karl Marx die Religion als »Opium des Volkes«. Allerdings sei diese sedierende Wirkung nur eine Facette eines widersprüchlichen Phänomens. Denn das »religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und … die Protestation gegen das wirkliche Elend«. So sehr Religion oftmals unerträgliche Verhältnisse erträglicher macht, so sehr lässt sie zugleich das Leiden an ihnen beredt werden. »Kritik der Religion« hat somit einen Doppelsinn: Religion tritt nicht nur als Objekt, sondern auch als Subjekt der Kritik in Erscheinung. Religiöser Protest muss dabei nicht bei der individuellen Anklage stehenbleiben, sondern kann die Gestalt sozialreligiöser Bewegungen annehmen – wie das Beispiel der Bauernaufstände vor 500 Jahren eindrücklich zeigt. Aber wie ist es um das Verhältnis von Religion und Revolution bestellt?
Revolutionärer Unsinn
Vor allem Friedrich Engels hat sich immer wieder mit Religionen als sozialen Protestbewegungen beschäftigt. In seinem Text »Bruno Bauer und das Urchristentum« von 1882 spottet er über die christliche »Unsinnsreligion«. Gleichzeitig wendet er sich jedoch auch gegen den »flach-rationalistischen Standpunkt« einer Kritik, die das Christentum durch den Nachweis logischer Unstimmigkeiten und historischer Unwahrheiten im biblischen Text erledigen möchte. Obendrein sei die in der Religionskritik der Aufklärung verbreitete These, betrügerische Priester würden die Menschen verführen, nicht dazu in der Lage, das »religiöse Bedürfnis« nach dem Christentum zu erklären. Zu erhellen gelte es jedoch gerade, »wie es kam, dass die Volksmassen des römischen Reiches diesen noch dazu von Sklaven und Unterdrückten gepredigten Unsinn allen anderen Religionen vorzogen«.
Engels zufolge hat das römische Imperium die politischen Zustände und Rechtsordnungen in seinem Machtbereich flächendeckend nivelliert und die unterworfenen Gebiete gleichermaßen durch die Erhebung hoher Steuern ausgeplündert. Diese Militärherrschaft sei den Massen als unabänderlich erschienen, Hoffnungslosigkeit grassierte, zumal mit der Auflösung der alten Gesellschaftsordnungen auch die alten Nationalgötter fragwürdig geworden waren. In dieser Situation hätten viele eine »geistige Erlösung als Ersatz« für materielle und spirituelle Entbehrungen gesucht. Doch während die Privilegierten verschiedenen Spielarten einer elitären philosophischen Lebenskunst anhingen, wandten sich die ungebildeten, armen Massen dem Christentum zu, das Erlösung durch das kommende Reich Gottes versprach. Durch die Taufe stand es Menschen aus allen Schichten und Völkern offen und war somit »die erste mögliche Weltreligion«.
Engels sieht den Kern des Urchristentums in dessen eschatologischem Endzeitbewusstsein: der fundamentalen Ablehnung der bestehenden Ordnung, der gespannten Erwartung auf eine Entscheidungsschlacht zwischen Gut und Böse sowie der Hoffnung auf das nahende Reich Gottes. Insbesondere in der »Offenbarung des Johannes«, einem apokalyptischen Text aus dem Neuen Testament, findet Engels »eine Kampfeslust und eine Siegesgewissheit«, die ihn an seine eigenen Genoss*innen erinnern. Tatsächlich besitze das Urchristentum mehrere »merkwürdige Berührungspunkte mit der modernen Arbeiterbewegung«: Beide seien Massenbewegungen der Armen und Unterdrückten gegen die ganze alte Welt, beide hoffen auf ein Ende von Knechtschaft und Elend, beide werden von den herrschenden Mächten ihrer Zeit verfolgt.
Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen.
Diese Parallelen können jedoch nicht die grundlegenden Unterschiede überdecken, die Engels im Rahmen seiner historischen Argumentation entwickelt. So konnten die Trägerschichten des Christentums aufgrund ihrer disparaten Interessen keinen einheitlichen politischen Ausdruck finden. Das Christentum sei daher als Verschiebung des Wunsches nach sozialer Umgestaltung aus der historischen Immanenz in die religiöse Transzendenz zu begreifen. Urchristentum ist Sozialismus unter den Bedingungen seiner geschichtlichen Unmöglichkeit.
Die deutschen Bauernkriege
Auch mit dem Zeitalter der Reformation hat Engels sich intensiv befasst. Zwei Jahre nach der gescheiterten bürgerlichen Revolution von 1848 in Deutschland veröffentlichte er »Der deutsche Bauernkrieg«, um verschüttete revolutionäre Traditionslinien der deutschen Geschichte zu bergen. Handelte es sich beim Christentum zunächst um eine Bewegung von Underdogs, so war dieses zum Zeitpunkt der Bauernkriege bereits seit über einem Jahrtausend institutionell und ideologisch gefestigt. Die Kirche war längst zu einem zentralen Machtpfeiler der herrschenden Ordnung geworden. Damit war auch eine Transformation des Glaubens einhergegangen, wie der Philosoph Jacob Taubes in seiner Studie »Abendländische Eschatologie« nachzeichnet. Die Hoffnungen auf ein demnächst eintretendes Reich Gottes waren nach den ersten Jahrhunderten alsbald verblasst, Erlösung wurde nicht länger als allgemeines heilsgeschichtliches Ereignis, sondern als spirituelles Schicksal der individuellen Seele begriffen.
Die marginalisierten apokalyptischen Lehren schwelten jedoch untergründig fort und stellten nach wie vor eine wichtige ideologische Ressource für die »Protestation gegen das wirkliche Elend« dar. Dies wird an zahlreichen sozialreligiösen Bewegungen im Spätmittelalter deutlich, die in den Augen der Kirche ketzerisch waren, sich selbst jedoch als Erneuer*innen eines authentischen, durch die Kirche pervertierten Christentums begriffen. Besonders brisant angesichts der feudalen Klassengegensätze war dabei die Verknüpfung eschatologischer Endzeiterwartungen mit einer Sozialkritik im Namen von Armut und Gemeineigentum, in Anlehnung an die Jerusalemer Urgemeinde. Zum Ausdruck kam dieses Begehren nach radikaler Gleichheit etwa in der Bewegung der böhmischen Taborit*innen, die im 15. Jahrhundert einen urchristlich inspirierten »Anarcho-Kommunismus« (Norman Cohn) einrichten wollten.
Urchristentum ist Sozialismus unter den Bedingungen seiner geschichtlichen Unmöglichkeit.
Gegen eine ideengeschichtliche Historiografie, die die Illusionen einer vergangenen Epoche beim Wort nehme, betont Engels, dass es sich bei den Auseinandersetzungen der Reformationszeit mitnichten um rein theologische Zänkereien gehandelt habe. Da intellektuelle Bildung kirchlich monopolisiert war, habe die christliche Religion einen universellen Referenzrahmen für gesellschaftliche Auseinandersetzungen gestellt. Gleichzeitig seien theologische Streitigkeiten aus diesem Grunde keine Spezialfragen in einer abgetrennten Domäne, sondern immer auch gesellschaftspolitische Fragen gewesen. Folglich mussten alle sozialen Interessengruppen im Reformationszeitalter versuchen, an theologische Legitimationsquellen anzuschließen und einen entsprechenden symbolischen Ausdruck finden. Dies gilt gleichermaßen für das katholisch-reaktionäre, das bürgerlich-reformatorische und das plebejisch-revolutionäre Lager, die Engels in seiner Darstellung unterscheidet. Doch wo der bürgerliche Block lediglich die Kirchenverfassung reformieren und die anmaßende Geistlichkeit in die Schranken weisen wollte, forderten die weiter treibenden plebejischen Elemente etwa um Thomas Müntzer auch in den irdischen Dingen Gleichheit und Gemeinschaft. Ihre revolutionären Bestrebungen mussten zugleich die Form der Ketzerei annehmen.
Der Zeitkern des Christentums
In Thomas Müntzers Lehre sah Engels nicht weniger als die »Antizipation des Kommunismus durch die Phantasie«, doch habe die Aufstandsbewegung »in der Wirklichkeit eine Antizipation der modernen bürgerlichen Verhältnisse« dargestellt. Angesprochen ist damit ein tragisches historisches Selbstmissverständnis der Protagonist*innen. Während der fantastische Kommunist Müntzer in Kontinuität mit biblischer Prophetie das Reich Gottes auf Erden erwartete und die eigene Situation in heilsgeschichtlichen Begriffen deutete, sehen wir im Rückblick eine ganz andersgeartete soziale Formation im 16. Jahrhundert heraufziehen: die kapitalistische Produktionsweise. Doch die damit einhergehende Revolutionierung aller Lebensverhältnisse bringt Marx und Engels zufolge auch einen Funktionswandel der Religion mit sich. In ihren Augen transformiert sich diese von einem vorausgesetzten Medium gesellschaftlicher Selbstverständigung zu Müntzers Zeiten mehr und mehr zu einem Atavismus und einem Erkennungszeichen reaktionärer Klassen.
Diese Historisierungsthese stützt sich wesentlich auf die Entwicklung der Naturwissenschaften und der kritischen politischen Ökonomie. Dies habe nicht nur religiösen Weltbildern das Wasser abgegraben, sondern vor allem die theoretische Einsicht und praktische Gestaltungsmacht im Diesseits erhöht. Im »Kapital« heißt es dementsprechend, der »religiöse Widerschein der wirklichen Welt kann überhaupt nur verschwinden, sobald die Verhältnisse des praktischen Werkeltagslebens den Menschen tagtäglich durchsichtig vernünftige Beziehungen zueinander und zur Natur darstellen« – und die Möglichkeit dazu sei nun erstmals herangereift. Gleichzeitig verändert sich durch die enorme Entwicklung der Produktivkräfte auch der soziale Gehalt der Befreiung: Eine Verallgemeinerung der Armut nach dem biblischen Ideal gilt Marx nun als »roher Kommunismus«.
Feindlich stehen Marx und Engels daher allen Versuchen gegenüber, das Erbe der sozialreligiösen Protestbewegung ungebrochen im modernen Sozialismus fortzuschreiben, wie es in der frühen Arbeiterbewegung der 1840er Jahren gängig war. So anachronistisch es wäre, die Religion pauschal zu verwerfen, so anachronistisch wäre es umgekehrt, an ihr unter modernen Bedingungen festzuhalten. Religion ist in dieser Perspektive ausschließlich in Gestalt eines aufgehobenen Erbes akzeptabel, das der Vergangenheit angehört.
Wir sind käuflich.
Aber nur für unsere Leser*innen. Damit nd.bleibt.
Die »nd.Genossenschaft« gehört ihren Leser:innen und Autor:innen. Sie sind es, die durch ihren Beitrag unseren Journalismus für alle zugänglich machen: Hinter uns steht kein Medienkonzern, kein großer Anzeigenkunde und auch kein Milliardär.
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ unabhängig und kritisch berichten
→ übersehene Themen aufgreifen
→ marginalisierten Stimmen Raum geben
→ Falschinformationen etwas entgegensetzen
→ linke Debatten voranbringen
Werden Sie Teil unserer solidarischen Finanzierung und helfen Sie mit, unabhängigen Journalismus möglich zu machen.