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Wohin führt der Weg der Harzer Luchse?

Die Wiederansiedlung der Wildkatze ist ein Erfolg. Aber der Radius der Tiere muss sich erweitern

  • Reimar Paul
  • Lesedauer: 8 Min.
Ein junger Luchs ist im Gehege an den Rabenklippen in Bad Harzburg angekommen. Das Tier aus Nürnberg soll für Nachwuchs im Gehege sorgen.
Ein junger Luchs ist im Gehege an den Rabenklippen in Bad Harzburg angekommen. Das Tier aus Nürnberg soll für Nachwuchs im Gehege sorgen.

Am Teufelsberg bei Lautenthal erinnert ein Gedenkstein an den Abschuss des letzten in freier Wildbahn lebenden Luchses im Harz. Der königlich-hannöversche Reitende Förster Johann Friedrich Wilhelm Spellerberg hatte das Tier am 17. März 1818 nach einer zweiwöchigen Hatz zur Strecke gebracht. An die 200 Jäger und Treiber sollen damals im Einsatz gewesen sein, um den Luchs ausfindig zu machen. Angeschossen und verletzt, war er zuvor immer wieder seinen Häschern entkommen.

182 Jahre später startete ein neues Kapitel. Im Sommer 2000 begann die Nationalparkverwaltung mit der Wiederansiedlung von Luchsen im niedersächsischen Teil des Harzes. Zwei Weibchen und ein Männchen, in der Jägersprache Katze und Kuder geheißen, die zuvor in verschiedenen Wildparks gelebt hatten, wurden damals in die Freiheit entlassen. Sie gewöhnten sich schnell an die neue Umgebung. Bereits im folgenden Jahr wurden die ersten Jungtiere in freier Wildbahn geboren. Bis 2006 entließen Nationalpark-Ranger insgesamt 24 Luchse – neun Männchen und 15 Weibchen – in die Freiheit.

25 Jahre nach Projektstart hat sich das Harzer Luchs-Vorkommen stabilisiert und aufs Umland ausgeweitet. »Die Fläche, auf der sich die Population ausbreitet, wächst«, sagt der Leiter des Luchsprojekts, Ole Anders. Der diplomierte Forstwirt betreut das Programm von Beginn an. »Und wir beobachten immer mehr führende Weibchen. In der vergangenen Saison haben wir 20 Weibchen gezählt, die Jungtiere geführt haben.«

Luchsexperte Ole Anders vom Nationalpark Harz ist für das Luchsprojekt verantwortlich.
Luchsexperte Ole Anders vom Nationalpark Harz ist für das Luchsprojekt verantwortlich.

Ein weiterer Indikator für eine stabile Population ist Anders zufolge die steigende Zahl von tot aufgefundenen Luchsen: »Steigt die Population, dann gibt es auch mehr tote Luchse, hauptsächlich durch Verkehrsunfälle.« Unter dem Strich lasse sich sagen: »Die Harzer Luchspopulation wächst seit Jahren moderat an.«

Ganz genaue Zahlen kann der Experte gleichwohl nicht liefern, man könne sich da nur annähern. »Für den Harz selbst gehen wir von etwa 55 erwachsenen Luchsen aus. Plus etwa 35 Jungtiere, die pro Saison geboren werden. Wenn wir das weitere Umfeld des Harzes betrachten, kommen wir auf eine Zahl von 120 oder sogar 150 erwachsenen Tieren.«

Aus dem Harz abgewanderte Luchse wurden zuletzt etwa im Solling, im Leinebergland und in Hessen nachgewiesen. »Während man anfangs einen Flickenteppich hatte, wächst das jetzt mehr und mehr zusammen«, sagt Anders. »Wir haben inzwischen eine ziemlich große durchgehende Fläche, die von Luchsen besiedelt ist.«

Die Nachweise erfolgen durch Fotofallen und Zufallsbeobachtungen. »Wir sammeln alles, was von Spaziergängern, Förstern oder Jägern gemeldet wird. Dann können wir mit unseren Kameras in das Gebiet gehen.« In den vergangenen Jahren habe sich auch das genetische Monitoring etabliert. »Das heißt, dass wir Kot oder Tierhaare untersuchen lassen.« In der Nationalparkverwaltung laufen alle Informationen bei Anders und einer Kollegin zusammen.

Ein Maskottchen geworden

Die anfänglichen Akzeptanzprobleme in der Bevölkerung sind mittlerweile überwunden. »In den Anfangsjahren des Projekts gab es Ängste und Vorurteile«, erzählt der Experte. »Damals war das Thema Luchs in Deutschland ja noch gar nicht präsent. Der Luchs frisst nun mal Rehe. Und gelegentlich frisst er auch ein Schaf, da steckte ein gewisses Konfliktpotenzial drin.«

Er und seine Mitarbeiter hätten damals viel Öffentlichkeitsarbeit gemacht, erzählt Anders. »Wir kamen uns vor wie Wanderprediger, die von Veranstaltung zu Veranstaltung gezogen sind.« Heute lasse sich aber sagen: »Der Luchs hat hier eine sehr hohe Akzeptanz, ist schon fast ein Maskottchen für die Region.« Tatsächlich stehen Stoff- und Spielzeugluchse in den Schaufenstern der Geschäfte von Goslar, Wernigerode und Bad Sachsa. Örtliche und regionale Firmen bewerben ihre Produkte mit dem Sympathieträger Luchs. Inzwischen kommen sogar Touristen eigens für den Luchs in den Harz. Zu sehen bekommen ihn aber nur sehr wenige Besucher. »Möglich ist es, aber man kann es nicht planen«, so Anders. Luchse sind vorwiegend in der Dämmerung und in der Nacht aktiv. Noch dazu bevorzugen sie bewaldetes Gelände. Direkte Beobachtungen sind daher selten und zufällig.

Aber wurden nicht auch schon im Harz Luchse illegal getötet? »Ja, schon«, räumt Anders ein. »Aber das hat längst nicht die Ausmaße wie bei Wölfen.« Oder wie bei der anderen nennenswerten deutschen Luchspopulation im Bayerischen Wald. Dort jagten Wilderer die streng geschützten Raubkatzen trotz Verbots häufiger und legten die Kadaver auch schon Umweltschützern vor die Tür.

Im Harz kam es in den vergangenen 25 Jahren insgesamt viermal zu »Vorfällen«, wie Anders die Abschüsse nennt. Zwei gab es in Thüringen, einen in Sachsen-Anhalt und einen in Niedersachsen. »Das sind Einzelfälle, die man nicht verharmlosen sollte. Aber vier bekanntgewordene Fälle in 25 Projektjahren hatten keinen Einfluss auf die Entwicklung der Population.«

Konkurrenz mit dem Wolf?

Offen ist, ob und wie sich die Luchse im Harz mit den zuletzt in das Mittelgebirge zugewanderten Wölfen vertragen. »Grundsätzlich schließen sich Wölfe und Luchse nicht aus in einem großen Waldlebensraum Harz«, befindet Anders und verweist auf die Karpaten, wo beide Arten seit Jahrzehnten relativ friedlich nebeneinander leben. Andererseits könne es im direkten Kontakt auch zu Aggressionen kommen. Dabei sei ein Luchs durchaus in der Lage, einen einzelnen Wolf »das Fürchten zu lehren« und auch zu vertreiben. Aber Wölfe seien schlau, sie kämen häufig nicht allein, sondern im Rudel. »Es ist ein großer Feldversuch«, sagt Anders. »So eine Situation – der Luchs ist da und der Wolf kommt dazu – haben wir bisher nicht gehabt. Ein Novum zumindest in Deutschland.«

Trotz des Erfolgs der Wiederansiedlung sehen Experten langfristige Herausforderungen. Probleme könnte die genetische Verarmung und Inzucht für die Harzer Luchse bereiten, erzählt Anders. Er hat Bilder von einem Luchs ohne Ohren von der französisch-schweizerischen Grenze gesehen. Dort gebe es auch Luchse mit Herzanomalien. »Wir vermuten, dass dahinter Inzucht und Degeneration stehen.« Die betroffene Population sei 25 Jahre älter als die im Harz und nicht vernetzt mit anderen. Im Grunde sei durch das Beispiel abzusehen, »wo wir in 25 Jahren landen, wenn nichts passiert«.

Es geschieht aber etwas, und es gibt Initiativen und Projekte, die gegensteuern – etwa ein Zuchtprogramm des Internationalen Zooverbandes oder Luchs-Auswilderungsprojekte im Schwarzwald, im Thüringer Wald und im Erzgebirge. Auf wissenschaftlicher Ebene stößt das Netzwerk »Linking Lynx« Forschungsvorhaben an.

»Für den Harz selbst gehen wir von etwa 55 erwachsenen Luchsen aus. Plus etwa 35 Jungtiere, die pro Saison geboren werden. Wenn wir das weitere Umfeld des Harzes betrachten, kommen wir auf eine Zahl von 120 oder sogar 150 erwachsenen Tieren.«

Ole Anders Leiter des Harzer Luchsprojekts

»Wichtig ist, dass die Luchse wandern«, betont Anders. Der Weg vom Harz in den Thüringer Wald sei zumindest für männliche Luchse »durchaus machbar, und das wäre schon nahezu die halbe Strecke ins Erzgebirge«. Wenn sich das Thüringer Projekt erfolgreich gestalte, »hätte man einen Trittstein in der Mitte, sodass vielleicht wirklich Luchsmigration in die eine oder andere Richtung möglich wird und eine Vernetzung zustande kommt«.

Aber woher weiß der Luchs aus dem Harz, dass im Thüringer Wald Artgenossen von ihm leben? Anders sagt: »Durch Trial and Error.« Es gebe ja bereits vor allem bei den Männchen Abwanderungen, diese seien bisher aber ins Leere gelaufen. »Ein Luchs, der vom Harz aus Richtung Norden startet, kommt irgendwann in der Lüneburger Heide oder an der Küste an, aber er bleibt der einzige Luchs dort.« Künftig würden aber nach Süden wandernde Kuder im Thüringer Wald vielleicht auf andere Luchse stoßen. »Und wenn es dann zur Reproduktion kommt, hätte das einen Effekt.«

Ohne menschliche Hilfe geht es allerdings nicht. Denn um Nahrung zu erbeuten und sich selbst sicher zu fühlen, brauchen Luchse Wald. Da eine kurzfristige Anpflanzung von Wäldern auf den potenziellen Luchswanderwegen unrealistisch ist, müssten die Tiere zumindest durch Korridore und Wildbrücken über Bundesstraßen und Autobahnen geleitet werden. »Da wäre ein dickes Brett zu bohren in unserer intensiv genutzten Landschaft. Aber wir müssen versuchen, es zu schaffen.«

Das gilt auch für politische Widerstände. Denn Sachsens Landwirtschaftsminister Georg-Ludwig von Breitenbuch (CDU) überlegt, das gerade angelaufene Auswilderungsprogramm im Erzgebirge wieder einzustampfen. Als Grund dafür gibt er leere Kassen an. Der Freistaat habe schon mit Birkhuhn und Wolf genug zu tun. »Da hätte man nicht unbedingt im Jahr der Landtagswahl 2024 noch den Luchs auswildern müssen«, sagte er der »Freien Presse«.

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Auch über eine Umsiedlung von Luchsen wird diskutiert. Der Fokus liege aber weniger auf Fängen als auf verwaisten Jungtieren, erklärt Anders. »Die Idee ist, wenn man in verschiedenen Populationen verwaiste Jungtiere hat, dass man dann so eine Art Ringtausch organisiert. Wenn das regelmäßig passiert, könnte das schon zu einer Sanierung der genetischen Strukturen führen.«

Die erfolgreiche Wiederansiedlung der Luchse im Harz war der Grund, dass ein Gegenstück zu dem eingangs erwähnten Lautenthaler Luchsstein geschaffen wurde. Das kleine Denkmal aus Bronze wurde am 20. Oktober 2017 am Kaiserweg bei Torfhaus an der nun »Luchsbrücke« genannten Überquerung des Gebirgsbachs Abbe errichtet.

Zwischen den beiden Denkmälern liegen nicht nur 199 Jahre, sondern auch ein Wandel im Umgang mit der Natur. Wo einst 200 Jäger einen einzelnen Luchs verfolgten, arbeiten heutzutage Wissenschaftler, Naturschützer und Politiker daran, eine ganze Population zu erhalten und zu vernetzen. Der Harzer Luchs ist vom verfolgten Raubtier zum Sympathieträger geworden.

Das Präparat des 1818 erlegten Luchses befindet sich heute im Naturhistorischen Museum Braunschweig und erinnert daran, was verloren gehen kann. Die lebenden Luchse im Harz zeigen, was möglich ist, wenn der Mensch der Natur eine zweite Chance gibt.

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