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Ukraine-Krieg: Nichts ist mehr, wie es war
Eine Frau berichtet über ihre Erfahrungen während des Ukraine-Kriegs und die russische Besatzung
Olga* sitzt im Sprechzimmer der Menschenrechtsgruppe Charkiw. Sie spricht schnell, als hätte sie Angst, etwas zu vergessen, und raucht E-Zigaretten in Kette. Die Frau mit den langen schwarzen Haaren hat mit ihren 42 Jahren ein bewegtes Leben hinter sich: Mehrere Jahre arbeitete sie als Klavierlehrerin, gründete eine eigene Firma, handelte mit Autos. Ihr Mann ist Polizist. Bisher hatte sie nie große Sorgen, finanziell war sie immer zurechtgekommen.
»Meine Haare sind nicht schwarz, ich habe sie nur schwarz gefärbt«, sagt sie. In nur einem Jahr sei sie völlig ergraut. Doch dann kam der Krieg – und er kam direkt in ihr Haus, das in einem kleinen Ort (Name des Ortes ist der Redaktion bekannt) in der Nähe von Charkiw (russisch: Charkow) liegt. Nur wenige Tage nach dem russischen Angriff auf die Ukraine waren sie in ihre Ortschaft gekommen, die russischen Soldaten. Begrüßt hatte sie niemand. »Wir sahen alle wie erstarrt aus unseren Wohnungen auf das russische Militär.« Und seitdem ist nichts mehr, wie es war.
Verhaftungen, Verhöre und Misshandlungen
Kaum hatten die Russen die Ortschaft eingenommen, begannen sie, sich für die Einwohner zu interessieren. Sämtliche Mobiltelefone wurden nach antirussischen Symbolen oder Nachrichten durchsucht. Und irgendwann war ihr Mann, der als Polizist für die Besatzer interessant war, an der Reihe. Es folgten zwei Verhaftungen, Verhöre und Misshandlungen durch die russischen Soldaten. Als ihr Mann verschwunden war, hatte Olga sich auf die Suche nach ihm gemacht, sprach bei allen Einheiten der russischen Armee vor.
Schließlich bekam sie heraus, wo er war. Auf der Kommandantur zeigte der russische Kommandeur Mitleid und ließ ihren Mann frei. Doch auch sie war bei dieser Suche misshandelt worden. »Ich bin nur froh, dass die Russen das Dokument nicht gefunden haben, das bestätigt, dass er im Donbass auf der Seite der Ukraine gekämpft hat.«
Mehrere Monate besetzt durch russische Truppen
Ein Nachbar habe irgendwann in der DDR seinen Wehrdienst abgeleistet. Und da hat er sich eine alte deutsche Zeitung aus der Zeit vor 1945 auf einem Trödelmarkt gekauft. Als die russischen Besatzer diese Zeitung, in der auch ein Bild von Hitler gewesen sei, sahen, hätten sie ihn standrechtlich erschossen, berichtet Olga.
Mehrere Monate dauerte die russische Besatzung. Gerne hätte sie in dieser Zeit mit ihrem Mann ihre Ortschaft verlassen, doch es ging nicht. Richtung Russland war der Weg theoretisch frei, aber wenn die Russen herausgefunden hätten, dass ihr Mann aufseiten der Ukraine gekämpft hatte, wäre ihm Gefängnis in Russland sicher gewesen.
Glücksgefühle durch eine Tasse Tee
Auch in von der Ukraine kontrollierte Gebiete konnten sie nicht fliehen, lag doch »die Null«, wie man in der Ukraine die Front nennt, dazwischen. Und mit der Besatzung kam der Hunger. »Ich wohnte in einem mehrstöckigen Haus, hatte keinen Garten und wenig Vorräte«, berichtet sie. Strom habe es anfangs nicht gegeben, auch das Mobilfunknetz funktionierte nicht. »Und dann nach einigen Tagen habe ich eine Tasse heißen Tee bekommen. Es war für mich wie Alkohol, ein Glücksgefühl.«
»Ich bin nur froh, dass die Russen das Dokument nicht gefunden haben, das bestätigt, dass er im Donbass auf der Seite der Ukraine gekämpft hat.«
Olga* über ihren Ehemann
Da es kein Gas gab, konnte man nur auf dem Hof kochen. Irgendwer hatte Holz gebracht, es zersägt. Und so konnte man auf dem Feuer kochen – immer in Gefahr, von einem Schuss getroffen zu werden. Irgendwann hatten die Russen die Stromleitungen wieder instand gesetzt. Auch humanitäre Hilfspakete hatten sie gebracht. Wer irgendetwas übrig hatte, stellte sich auf den Markt und verkaufte das. Olga und ihr Mann hatten noch Benzin übrig, das sie auf dem Markt verkauften. Später öffneten dann sogar Geschäfte wieder. Eine 27-jährige Frau habe bei diesem Stress einen Herzinfarkt erlitten. Da ihr niemand helfen konnte, starb sie. Ihr Leichnam habe mehrere Tage auf der Straße gelegen.
Mit der Befreiung von den Besatzern wurde es nicht besser
Die Behandlung der Bewohner durch die russischen Besatzungstruppen war sehr unterschiedlich. Während die russische Nationalgarde weitgehend korrekt gewesen sei, seien Vertragssoldaten sehr willkürlich und gewalttätig gegen die Bevölkerung vorgegangen. Ständig sei die Ortschaft beschossen worden, man konnte sich nur bei Lebensgefahr auf die Straße begeben. Wer verletzt war, konnte keine Hilfe erwarten, war ganz auf sich selbst gestellt.
Besser wurde es für das Paar mit der Befreiung der Stadt von den russischen Besatzern nicht. Kaum war die Stadt wieder in ukrainischer Hand, wurde ihr Mann festgenommen. Nun beschuldigten die ukrainischen Behörden ihren Mann der Zusammenarbeit mit den russischen Besatzern. Ihr Mann streitet die Anschuldigungen ab. Gleichwohl wurde er in Charkiw vom ukrainischen Inlandsgeheimdienst SBU verhaftet und angeklagt. Man wirft ihm Staatsverrat vor. Im schlimmsten Fall droht ihm eine lebenslängliche Haftstrafe.
Menschenrechtsgruppe dokumentiert Verbrechen der russischen Besatzer
»Die Menschen, die hier in Charkiw sitzen, haben gut reden«, wirft Olga ein. Sie wüssten überhaupt nicht, wie eine Besatzung aussieht. »Auch während der Besatzung hatten Elektriker, Busfahrer, Lehrer, Kindergärtnerinnen weiter ihren Dienst getan. Die Stadt muss doch weiterleben. Und außerdem drohen empfindliche Strafen durch die Besatzer, wenn man sich weigert, mit ihnen zusammenzuarbeiten.«
Olga hat sich an die Charkiwer Menschenrechtsgruppe gewandt. Dort wird sie von der Menschenrechtsanwältin Tamila Bespala betreut. Diese Gruppe, die am 9. Juni 2024 in Köln mit dem Lew-Kopelew-Preis ausgezeichnet wurde, dokumentiert Verbrechen der russischen Besatzer, berät und betreut Personen, die eine Besatzung durchlebt haben.
Als russische Truppen am 24. Februar 2022 die Ukraine überfielen, verließen viele Bewohner von Charkiw und Mitarbeiter der Menschenrechtsanwältin Tamila Bespala die Stadt. Doch Tamila blieb. »Ich kann doch nicht online die Opfer von Gewalt und Besatzung betreuen«, erklärt sie ihre Entscheidung. Seitdem hat sie Hunderten von Gewaltopfern geholfen, mit juristischem Rat und psychologischem Beistand. Sie liebt ihre Arbeit, sieht, wie wichtig sie für die Menschen in Charkiw ist. »Was mich am meisten erschreckt, ist die Tatsache, dass sexuelle Gewalt, auch gegen Männer, inzwischen fester Bestandteil der Haftbedingungen in von Russland kontrollierten Gebieten ist«, so Bespala. Sie betreut auch Opfer der ukrainischen Militärbehörde TZK. »Es findet regelrecht eine Jagd auf Männer statt, die dann zum Militär gezwungen werden.« Als Menschenrechtlerin verurteile sie das Vorgehen des TZK. »Aber als Bürgerin der Ukraine sage ich mir auch, dass wir Soldaten brauchen für die Verteidigung unseres Landes.« Man hätte den Krieg 2022 mit Verhandlungen beenden können, sagt sie. »Nun müssen wir weiterkämpfen. Aber sollten die Russen unsere Stadt einnehmen, werde ich fliehen. Wenn sie mich finden, werden sie mich töten.«.
Wie weiter? Olga hofft, dass das Gericht erkennt, dass die Vorwürfe nicht haltbar sind. Ihre eigene Zukunft ist unsicher: »Ich bin in einer Liste von Angehörigen, die des Staatsverrats beschuldigt werden. Da bekomme ich keinen Job mehr. Ich kann höchstens auf dem Markt als Verkäuferin arbeiten.«
*Der Name der Frau wurde auf ihre Bitte hin geändert, ihr Gesicht unkenntlich gemacht. Niemand wisse, wie es mit ihrer Ortschaft weitergehe, und wenn eines Tages die Russen wieder zurückkehrten, könnte ein Artikel in einer westlichen Zeitung ihr schaden, so Olga.
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