Gigantisches Internierungslager

Mit einer Hungerblockade will Israel Gaza ethnisch säubern. Die Hilfsorganisation Palestinian Medical Relief Society schlägt Alarm

Diese Woche wurde ein Verteil-Zentrum der amerikanisch-israelisch geführten Gaza Humanitarian Foundation (GHF) in Rafah von Hungernden gestürmt.
Diese Woche wurde ein Verteil-Zentrum der amerikanisch-israelisch geführten Gaza Humanitarian Foundation (GHF) in Rafah von Hungernden gestürmt.

Auch in Deutschland setzt sich allmählich die Erkenntnis durch, dass Israels Vorgehen in Gaza mit den offiziellen Kriegszielen wenig zu tun hat. So stellte Kanzler Merz diese Woche fest, er könne die Logik der israelischen Militärschläge »nicht mehr erkennen«. Und Luisa Neubauer von Fridays For Future, die sich vor einigen Monaten wegen Gaza noch empört von Greta Thunberg distanziert hatte, fordert die Bundesregierung nun zum Handeln auf.

Die Einsicht kommt spät und bleibt unzureichend. Denn immer offenkundiger entpuppt sich Israels Politik in Gaza als großangelegtes Projekt der ethnischen Säuberung. Wie dramatisch die Lage ist, vermittelte die Nichtregierungsorganisation Palestinian Medical Relief Society (PMRS) Mitte dieser Woche in einem Pressegespräch. Die Organisation, die mit 80 mobilen Teams die Gesundheitsversorgung in Gaza aufrecht zu erhalten versucht und dementsprechend einen umfassenden Überblick über die Situation besitzt, zeichnet ein verheerendes Bild.

Dem Leiter von PMRS Mustafa Barghuthi zufolge hat Israels Armee seit Oktober 2023 insgesamt 100 000 Tonnen Sprengstoff über Gaza abgeworfen, was der Explosivkraft von mehr als fünf Hiroshima-Bomben entspricht. 53 000 Menschen, davon 18 000 Kinder seien getötet, weitere 122 000 verletzt worden – von denen 11 000 wegen fehlender Behandlungsmöglichkeiten akut vom Tod bedroht sind. Insgesamt seien 10 Prozent der Zivilbevölkerung tot oder verletzt.

Die Bevölkerung soll erst in einer Zone konzentriert und dann zwangsumgesiedelt werden.

Immer deutlicher wird auch, welche Pläne mit der Blockade verfolgt werden. Seit drei Monaten ist Gaza abgeriegelt, Anfang der Woche begann die umstrittene US-Organisation Gaza Humanitarian Foundation nun mit der Verteilung von Lebensmitteln in einigen wenigen »humanitären Zentren«. Das Problem ist dabei aber nicht nur, dass die Menge der Lieferungen unzureichend ist. Nach Berechnungen der Palestinian Medical Relief Society müssten zur Versorgung der Bevölkerung etwa 1000 Lastwagen täglich Gaza erreichen, durchgelassen würden von Israel aber nur neunzig. Als weitaus problematischer erachtet Barghuthi, dass Israel mit der Einrichtung der Verteilzentren die Internierung von zwei Millionen Menschen durchsetzen will. Durch Hunger sollen die Zivilisten in abgeriegelte Zonen gezwungen werden, aus denen sie nicht mehr an ihre Wohnorte zurückkehren dürfen.

Für Barghuthi versteckt sich hinter den Lebensmittellieferungen deshalb ein Militärplan: Die Bevölkerung soll erst konzentriert und dann zwangsumgesiedelt werden. Das scheint auch Jake Wood, dem bisherigen Leiter der Gaza Humanitarian Foundation, aufgefallen zu sein. Wood trat Anfang der Woche zurück, weil humanitäre Organisationen dem Prinzip der Neutralität verpflichtet seien – was er von der eigenen Organisation offenbar nicht mehr behaupten konnte.

Das in Deutschland lange akzeptierte Narrativ, es handele sich bei den Zerstörurungen um Kollateralschäden der Hamas-Bekämpfung, ist in Anbetracht der Entwicklungen nicht mehr zu halten. Laut PMRS hat das israelische Militär alle 36 Krankenhäuser des Gazastreifens bombardiert und 330 Gesundheitsarbeiter umgebracht. Von den 15 Sanitätern, die israelische Soldaten Ende März hinrichteten, seien, so Barghuthi, einige bei lebendigem Leib verscharrt worden. Des Weiteren geben es systematische Angriffe auf die Berichterstattung. 216 palästinensische Journalisten wurden seit Oktober 2023 in Gaza getötet.

Auch die Situation im Westjordanland spitzt sich weiter zu. Alle Städte der West-Bank sind mittlerweile besetzt, 800.000 schwerbewaffnete Siedler verüben fast täglich Angriffe auf die Zivilbevölkerung. Immer unverhohlener wirbt Israels Rechte für eine zweite Nakba – eine Massenvertreibung, wie sie die Palästinenser 1948 erlitten.

Aus Sicht Barghuthis hätte diese Entwicklung verhindert werden können, wenn die internationale Gemeinschaft Israel frühzeitig Grenzen gesetzt hätte. Als zweitgrößter Waffenlieferant trage Deutschland hier unmittelbar die Verantwortung.

Tatsächlich dürften sich viele im historischen Rückblick fragen, warum sie sich einem offenkundig faschistischen Projekt gegenüber so lange gleichgültig verhielten.

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