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Anpassungsfähiger Schädling

Die Schilf-Glasflügelzikade befällt eine Agrarkultur nach der anderen

  • Matthias Becker
  • Lesedauer: 4 Min.
Die Schilf-Glasflügelzikade könnte erhebliche Ernteeinbußen verursachen.
Die Schilf-Glasflügelzikade könnte erhebliche Ernteeinbußen verursachen.

Kaum so groß wie ein Fingernagel, mit einem etwas eckigen Kopf, kugelrunden Augen und dünnen durchsichtigen Vorderflügeln, denen sie ihren Namen verdankt: Die Schilf-Glasflügelzikade ist hübsch, aber versetzt Landwirte in Angst und Schrecken. Dabei galt die Art noch vor Kurzem als vom Aussterben bedroht und steht immer noch auf der Roten Liste. Aber während die Populationen anderer Insektenarten zusammenbrechen, breitet sich diese Zikade immer weiter aus – und bringt die bakteriellen Pflanzenkrankheiten Syndrome Basses Richesses (SBR) und Stolbur mit.

Landwirte und Agrarindustrie beschreiben die Lage maximal dramatisch. Von einer »Apokalypse« sprach Georg Vierling vom Südzucker-Konzern. Die »Grundversorgung der Bevölkerung mit heimischen Lebensmitteln« sei gefährdet, glaubt Bernhard Conzen, der Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Rübenbauverbände (ADR). Tatsächlich könnte die diesjährige Ernte bei Kartoffeln und Rüben um die Hälfte geringer ausfallen, wenn es nicht gelingt, die Zikaden einzudämmen.

Noch vor Kurzem galt die Art als vom Aussterben bedroht.

Das Insekt profitiert von der Klima- und Biodiversitätskrise. Die weiblichen Zikaden legen ungefähr ab dem Monat Mai Eier in den Ackerboden, in der Nähe von Rüben und Wurzeln. Ihre Larven, auch Nymphen genannt, leben nach dem Schlüpfen zunächst unter der Erde und ernähren sich von unterirdischen Pflanzenteilen, an denen sie saugen. Ausgewachsen klettern die Zikaden an die Oberfläche und fliegen auf. Immer längere und trockene Sommer und milde Winter sind günstig für sie. Es können sogar zwei Generation innerhalb eines Jahres entstehen. Wegen der steigenden Temperaturen wandert die Zikade seit 2008, als der erste Befall in Deutschland berichtet wurde, immer weiter nach Norden. Außerdem profitiert sie davon, dass einige ihrer natürlichen Feinde (Wanzen, Spinnen, Ameisen, Vögel) seltener werden.

Andererseits zeigt die Schilf-Glasflügelzikade eine bemerkenswerte Anpassungsfähigkeit. Da ihre ursprünglichen Lebensräume wie Bruchwälder, Sümpfe und Moore vielfach trockengelegt wurden, erschließt sie sich eine Agrarkultur nach der anderen. Zunächst fraß sie lediglich Zuckerrüben, dann Kartoffeln und Pastinaken, mittlerweile auch Spargel, Karotten und Rote Bete. Das infizierte Gemüse wird lasch und biegsam, die Blätter werden welk und schmal. Befallene Zuckerrüben werden anschaulich »Gummirüben« genannt, sie enthalten deutlich weniger Zucker. Kartoffeln und Pastinaken sind nur noch als Tierfutter oder überhaupt nicht mehr zu gebrauchen.

Im April kam eine Notfallzulassung von Insektiziden, die der Deutsche Bauernverband (DBV) und die Agrarindustrie gefordert hatten, unter anderem für Neonikotinoide. Diese Nervengifte werden von Pflanzen und im nächsten Schritt von Insekten aufgenommen, die sie berühren oder fressen. Sie werden mitverantwortlich gemacht für das Bienensterben, und drei Mittel aus dieser Gruppe wurden 2018 in der EU verboten. Der Bund für Umwelt- und Naturschutz Deutschland (BUND) geht davon aus, dass nun Neonikotinoide auf über 125 000 Hektar gespritzt werden. Wegen der Abdrift seien tatsächlich sogar über 500 000 Hektar betroffen. Das Bündnis für eine neonikotinoidfreie Landwirtschaft (BNL) befürchtet einen »ökologischen Kahlschlag in der Insektenwelt«. Umweltschützer und Imker bemängeln zudem, dass die Öffentlichkeit nicht informiert wird, wo genau diese Insektizide ausgebracht werden.

Mit Neonikotinoiden lässt sich der Schaden eindämmen, von den Äckern verschwinden werden die Glasflügelzikaden aber nicht. Dazu wäre ein Bündel von langfristigen Gegenmaßnahmen notwendig. Resistente Zuckerrüben, denen die SBR-Bakterien nichts anhaben können, werden erst in einigen Jahren zur Verfügung stehen. Am wichtigsten wäre eine Anpassung der Fruchtfolgen. Wenn im Winter der Acker unbebaut bleibt – die sogenannte Schwarzbrache –, finden die Nymphen keine Nahrung. Daran müssen sich allerdings alle Landwirte in einem Verbreitungsgebiet halten, möglichst mehrere Jahre lang. Der Trend geht in die entgegengesetzte Richtung: Die Landwirte greifen zu immer simpleren, aber profitablen Fruchtfolgen – wie Getreide nach Rüben – und gönnen dem Boden immer weniger Ruhe und Regeneration. Sonst hätte sich dieser Schädling nicht derart ausbreiten können.

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