Fischer in Kolumbien: »Niemand wird allein­­­gelassen«

Der Fischer »El Mono« Cardales vertraut auf das Meer und die Bewohnergemeinschaft einer winzigen Insel

  • Interview: Anna-Lena Diesselmann
  • Lesedauer: 7 Min.
Santa Cruz del Islote – Fischer in Kolumbien: »Niemand wird allein­­­gelassen«

Santa Cruz del Islote, hier in der Karibik vor der Küste Kolumbiens, gilt als die dichtestbesiedelte Insel der Erde …

Heute leben hier rund 1000 Menschen dauerhaft auf einem halben Hektar Land. Aber die enge Besiedlung gibt es schon lange. Nur war die Insel früher kleiner, aber fast ebenso stark bewohnt. Die Insel wächst mit unserer Gemeinschaft. Ich bin 1949 geboren, genau hier, mitten im Meer. Damals lebten vielleicht 200 Personen hier. Es gab keine Motorboote, keinen Strom, kein Plastik. Aber die Insel war schon immer winzig und eng und das Meer war schon immer weit und endlos – und unser Freund, unser Lehrer, unser Kalender. Wenn die Wellen höher wurden, wussten wir: Es kommt Regen. Wenn es flach lag, war es ein guter Morgen zum Fischen. Die wenigen Häuser waren aus Holz, die ersten standen auf Pfählen, direkt über dem Riff. In den Nächten hat der Wind durch die Bretter gepfiffen, und manchmal dachte man, das ganze Islote atmet.

Und wie kamen die ersten Bewohner hierher?

Laut unseren eigenen Erzählungen und Studien kamen die ersten Fischer vor rund 330 Jahren. Es waren Männer vom Festland. Sie verbrachten die Nächte auf dem Riff, weil es dort keine Mücken gab und man sicher schlafen konnte. Tagsüber fingen sie Fische und suchten nach Langusten und Muscheln. Irgendwann fingen sie an, kleine Unterstände zu bauen, dann blieben sie mehrere Tage. Schließlich holten sie ihre Familien nach. Aus dem provisorischen Lager entstand ein Dorf – auf dem Riff, mitten im Meer. Der Platz war schon immer knapp, der Boden von Natur aus instabil und die Menschen müssen sich jeden Zentimeter teilen. Aber trotzdem kommen mehr Menschen, und vor allem bekommen wir viele Kinder – die wollen später auch alle ein eigenes Haus haben. Die Insel platzt aus allen Nähten, aber trotzdem gibt es kaum eine Möglichkeit, wegzugehen. Und die meisten Leute wollen auch nicht weg.

Interview

Guillermo Cardales, genannt »El Mono« ist Fischer, Geschichten­erzäh­ler, Histo­ri­ker, Touristen­führer, Bastler, Taucher, Bootsfahrer und Vor­sitzen­der des Gremiums der Insel­guides auf der kolum­bia­ni­schen Insel Santa Cruz del Islote.

Wovon lebt man hier?

Ich bin wie mein Vater und sein Vater mit der Harpune fischen gegangen. Barfuß. Kein Taucheranzug, keine Pressluft. Mit einem Boot, alleine. Das ist auch eine Art, der Enge auf der Insel für einen Moment zu entkommen. Unsere Väter und Großväter tauchten hinab und kamen mit riesigen Muscheln zurück, als wäre das nichts. Und wir Kinder? Wir haben zugeschaut – voller Bewunderung. So hat man Respekt gelernt. Vor den Älteren, vor der Natur, vor dem Wasser. Das Meer war immer unsere Lebensquelle – und unser Reichtum.

Ist das so geblieben?

Heute leben viele auch vom Tourismus. Das größte Highlight hier ist das Aquarium, wo man Haie aus der Nähe erleben kann. Die meisten Touristen kommen nicht über Nacht, sondern mit organisierten Ausflügen nur für eine halbe Stunde. Sie schnorcheln in den Korallenriffen und machen Fotos von der »kleinsten Insel der Welt«.

Gibt es weitere Einnahmequellen?

Andere von uns arbeiten unter der Woche auf dem Festland – in Cartagena oder Tolú – und kommen am Wochenende oder zu besonderen Feiertagen nach Hause. Dann wird es besonders eng, laut und lebendig auf dem Islote – wie ein kollektives Familientreffen. Aber das Wichtigste ist: Wir leben von unserer Gemeinschaft. Niemand wird alleingelassen. Wenn jemand kein Geld hat, teilt man, was da ist. Wenn jemand krank ist, hilft man. Wenn jemand baut, kommen Nachbarn und helfen mit Werkzeug.

Es gibt kein Trinkwasser, und die Stromversorgung funktioniert nur prekär?

Das stimmt. Wir haben keine Leitungen, keine öffentliche Infrastruktur. Alles, was funktioniert, haben wir selbst organisiert. Irgendwann hat jemand einen Generator vom Festland mitgebracht. Dann hatten wir auch nachts Licht. Tagsüber läuft kein Fernseher, es gibt kein Unterhaltungsprogramm – das Leben passiert draußen. Regenwasser wird in einem großen Tank gesammelt und an die Familien verteilt – aber es hat seit Monaten nicht geregnet. Also müssen wir Wasser von einer privaten Entsalzungsanlage kaufen. Das wird in großen Kanistern per Boot geliefert. Die Schule hier hat immerhin ein kleines Modem, damit die Kinder lernen können, mit dem Internet umzugehen. Einen Sportplatz gibt es auf einer Nachbarinsel, einen Schulhof haben wir nicht. Dafür drei kleine Läden, einen direkt am Dorfplatz, in denen man zusammensteht, einen Softdrink trinkt und sich über den Klatsch und Tratsch informiert.

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Wie erleben Sie das Leben in einer so dicht bevölkerten Umgebung? Was sind die größten Herausforderungen?

Weil wir so eng zusammenleben, gibt es keine Geheimnisse. Keine Privatsphäre. Wenn jemand lacht oder weint – es hört immer jemand. Aber das hat auch eine gute Seite: Es schafft Verbundenheit. Wir organisieren uns in Kollektiven: Es gibt einen Inselrat, die höchste Instanz – alle gehören ihm an, der Vorsitz rotiert. Die Touristenführer haben ein eigenes Kollektiv, dort wird entschieden, wer wann arbeitet. Die Einnahmen des Tages werden gleichmäßig verteilt. Die Fischer haben eine Vereinigung – wenn einer mal nichts fängt, helfen die anderen aus. Wir sind extrem anpassungsfähig. Wir haben nie viel, aber wir kommen durch. Jeder kennt jeden, jeder hilft jedem. Und das Leben hier lässt viel Raum zum Reden, zum Improvisieren. Es gibt keine Kriminalität, keine verschlossenen Türen. Die Tagestouristen dürfen nur über den Hauptweg und ins Aquarium. Der Rest der Insel gehört uns.

Die Insel wächst ja immer weiter – wann ist das Ende erreicht?

Dem Meer etwas abzutrotzen, ist schwer. Wir füllen mit Schutt, Korallenbruch und Schwemmsand winzige Plattformen auf, die dann zu Grundstücken werden. Das dauert manchmal Jahre. Richtung Osten ist Schluss – da fällt das Riff plötzlich 30 Meter tief ab. Das kann man nicht auffüllen. Im Westen geht noch ein wenig – aber dort beginnen die geschützten Korallen. Das wirkliche Ende wird wahrscheinlich unsere Abhängigkeit vom Festland bringen. Denn ohne das Festland geht nichts: Müll, Trinkwasser, Strom. Es gibt keine Polizei hier, die Schule ist einsturzgefährdet. Ein Krankenhaus ist weit entfernt, es gibt nur einen Notdienst, zwei Krankenschwestern und einen Arzt. Manchmal denke ich, der Staat hat uns vergessen. Wir bräuchten Unterstützung – auch, um Alternativen zum Fischfang und Tourismus zu entwickeln. Wir könnten im Umweltschutz helfen, bei der Bestandsaufnahme der Artenvielfalt. Wir kennen die See besser als jede Drohne und jeder Taucher aus der Stadt.

Wie geht die Gemeinschaft mit den Veränderungen um? Hat sich die Mentalität im Laufe der Zeit verändert?

Ja, definitiv. Es gibt mehr Frustration. Viele Jugendliche wollen aufs Festland, Tiktok-Videos machen, ein anderes Leben führen. Ich verstehe und unterstütze das. Denn wenn sie zurückkommen, bringen sie auch etwas mit: Wissen, Fragen, eine andere Sichtweise. Jetzt hat sogar das Islote einen Instagram-Account.

Und was wünschen Sie sich für die Zukunft von Santa Cruz del Islote?

Wir leben mit dem Meer – und mit allem, was sich darin bewegt. Es gibt Tage, da legst du dich auf den Rücken ins Wasser, schaust in den Himmel – und es fühlt sich an, als würdest du schweben zwischen zwei Welten. Aber es gibt auch Tage, da weißt du: Heute besser nicht rausfahren. Die Leute aus der Stadt schauen aufs Meer und sehen ein schönes Fotomotiv, eine Postkarte. Wir sehen darin eine Geschichte, eine Warnung, ein Versprechen. Das Meer erlaubt uns zu leben – und es ist unser Rückzugsraum. Das möchte ich bewahren. Ich wünsche mir, dass die junge Generation das nicht vergisst. Dass sie weiterzieht – ja –, aber dass sie auch zurückkommt. Mit neuen Ideen. Und mit demselben Herzen.

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