Dow Chemical in Böhlen: Abschalten statt Aufspalten?

Gewerkschaftsprotest in Böhlen gegen drohende Werksschließung bei Dow Chemical

Chemiearbeiter bei der Protestveranstaltung gegen die Stilllegungspläne von Dow Chemical
Chemiearbeiter bei der Protestveranstaltung gegen die Stilllegungspläne von Dow Chemical

»Hier stehen nicht allein Hunderte gut bezahlter und tariflich sauber geregelter Arbeitsplätze auf dem Spiel, sondern auch die industrielle Zukunft einer ganzen Region«, sagte Michael Vassiliadis, Vorsitzender der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IGBCE), am Mittwoch vor rund 700 Demonstrierenden in Böhlen. Die Gewerkschaft hatte aufgrund der drohenden Stilllegung von Werken des US-Konzerns Dow Chemical in der südlich von Leipzig gelegenen sächsischen Stadt sowie in Schkopau (Sachsen-Anhalt) zu Protesten aufgerufen. »Wenn der Cracker abgeschaltet werden sollte, fallen vor- und nachgelagerte Anlagen in der Prozesskette wie Dominosteine«, warnte Vassiliadis.

In sogenannten Crack-Verfahren werden Kohlenwasserstoff-Moleküle gespalten, wodurch Grundbausteine für weitere Prozesse entstehen, insbesondere in der Kunststoff- und Petrochemie. Mehrere Dutzend Unternehmen dieser Branchen sind in der Region angesiedelt und werden von Dow beliefert. Der US-Konzern erwägt eine vorübergehende Stilllegung der Produktionsanlagen. Auch Schließungen stehen im Raum – aus Kostengründen, wie das Unternehmen erklärt.

Hintergrund der Pläne ist der internationale Wettbewerbsdruck. China drängt mit subventionierten Produkten auf den europäischen Markt und die USA schotten ihre Wirtschaft zunehmend für Exporte aus Europa ab. Die Unternehmen sind jedoch nicht erst durch die Zollpolitik Trumps besorgt. Laut dem Verband der Chemischen Industrie wurde die Grundstoffproduktion in den vergangenen Jahren um mehr als 25 Prozent zurückgefahren. Der Branchenumsatz sank im Geschäftsjahr 2024 um zwei Prozent und die Auslastung der Produktionsanlagen betrug durchschnittlich nur 75 Prozent. In Ostdeutschland sank der Umsatz der Chemie- und Pharmaindustrie im vergangenen Jahr um 7,7 Prozent.

»Wenn der Cracker abgeschaltet werden sollte, fallen vor- und nachgelagerte Anlagen in der Prozesskette wie Dominosteine.«

Michael Vassiliadis IGBCE-Vorsitzender

Ein Problem ist, dass das traditionelle Geschäftsmodell der ostdeutschen Chemie – günstiges Gas zu veredeln – ins Wanken geraten ist, wie es aus Branchenkreisen heißt. Kostengünstige russische Lieferungen fielen aufgrund des Ukraine-Kriegs weg. Zudem führen die Dekarbonisierungskosten in Europa zu einem Nachteil im globalen Wettbewerb. Während andere Weltregionen weiterhin auf günstige fossile Energien setzen, müssen deutsche Unternehmen die Kosten für den CO2-Ausstoß tragen, bemängeln die Wirtschaftsverbände.

Hinzu kommen nach wie vor relativ hohe Strompreise. Auch wenn sie zuletzt rückläufig waren, zahlen Unternehmen mit Vergünstigungen rund zehn Cent pro Kilowattstunde. In Frankreich sind es aufgrund des staatlich subventionierten Atomstroms etwa die Hälfte. Als energieintensiver Sektor stellt das die deutsche Chemieindustrie vor besondere Herausforderungen, mahnt der regionale Wirtschaftsverband Nordostchemie an.

Die IGBCE kritisiert aber auch die Unternehmenspolitik. Als Dow und andere Konzerne in den 1990er Jahren von der Treuhand Teile der DDR-Großchemie wie den Kombinaten Buna und Leuna übernahmen, hätten sie massiv von Fördermitteln profitiert, aber zuletzt kaum noch in die Standorte investiert. Viele Anlagen seien veraltet und im internationalen Vergleich wenig wettbewerbsfähig. Die Gewerkschaft fordert einen »Ost-Chemie-Gipfel«, um gemeinsam mit den Unternehmen und der Bundesregierung über Lösungen zu beraten.

nd.DieWoche – unser wöchentlicher Newsletter

Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen.

Die schwarz-rote Koalition hat in ihrer Regierungsvereinbarung umfassende Unterstützung für die Konzerne angekündigt. Ein »Realitätscheck der Energiewende« soll die Systemkosten senken, wie es auch, gegen die Vorgängerregierung gerichtet, auf Anfrage heißt. Das Wirtschaftsministerium unter Katherina Reiche (CDU) plant eine dauerhafte Deckelung der Netzentgelte und weitere steuerliche Entlastungen beim Strom. Auch soll die Strompreiskompensation ausgeweitet und ein Industriestrompreis für besonders energieintensive Branchen eingeführt werden. Über die Zulässigkeit laufen Beratungen mit der EU-Kommission.

Die IGBCE begrüßt die Maßnahmen, drängt jedoch auf schnelle Entscheidungen: »Wir haben keine Einarbeitungszeit von 100 Tagen«, mahnt die Gewerkschaft. »Das muss jetzt passieren.« Die Schließung großer Anlagen erhöhe die Infrastrukturkosten für verbleibende Betriebe in der Region, was weitere Stilllegungen nach sich ziehen könnte. Auch andere Konzerne wie BASF in Schwarzheide (Brandenburg) oder Wacker Chemie in Sachsen berichten von Problemen.

Das Bundeswirtschaftsministerium sieht jedoch die Lage nicht nur negativ: »Gemessen am Umsatz steht die deutsche chemisch-pharmazeutische Industrie in Europa nach wie vor auf Platz eins, weltweit an dritter Stelle hinter China und den USA«, erklärt eine Sprecherin des Ministeriums. Zudem liege die Branche bei Exporten, die zur Hälfte in EU-Länder gehen, weiterhin ganz vorne.

Wir sind käuflich.

Aber nur für unsere Leser*innen. Damit nd.bleibt.

Die »nd.Genossenschaft« gehört ihren Leser:innen und Autor:innen. Sie sind es, die durch ihren Beitrag unseren Journalismus für alle zugänglich machen: Hinter uns steht kein Medienkonzern, kein großer Anzeigenkunde und auch kein Milliardär.

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:

→ unabhängig und kritisch berichten
→ übersehene Themen aufgreifen
→ marginalisierten Stimmen Raum geben
→ Falschinformationen etwas entgegensetzen
→ linke Debatten voranbringen

Werden Sie Teil unserer solidarischen Finanzierung und helfen Sie mit, unabhängigen Journalismus möglich zu machen.