Edle Tropfen, harte Realität

Unternehmer Rajeev Samant brachte Indien einen Weinboom – doch nicht alle haben etwas davon

  • David Biber, Nashik
  • Lesedauer: 6 Min.
Die Region Nashik im westindischen Bundesstaat Maharashtra hat sich zu einem Weinanbaugebiet entwickelt.
Die Region Nashik im westindischen Bundesstaat Maharashtra hat sich zu einem Weinanbaugebiet entwickelt.

Die Hitze flirrt über den Weinbergen von Nashik. 34 Grad zeigt das Thermometer an diesem Samstagnachmittag, als Varad durch die Rebzeilen wandelt. Schweiß perlt auf seiner Stirn, während er die Stöcke auf Schädlinge untersucht, verwelkte Blätter entfernt und heruntergefallene Trauben vom ausgedörrten Boden aufsammelt. Die körperliche Anstrengung ist ihm anzumerken, doch er wirkt gefasst: »Mir ist auch heiß und es ist anstrengend, hier zu arbeiten. Aber wir sind die extreme Hitze gewöhnt.« Im Hochsommer wird es noch unerträglicher. Dann verlagern die Arbeiter ihre Schichten in die frühen Morgen- und späten Abendstunden – eine Anpassung, die keineswegs selbstverständlich ist. »Das war damals ein Entgegenkommen meines Chefs«, erinnert sich Varad. »Eigentlich wollte er, dass wir durcharbeiten.«

Rajeev Samant ist ein Pionier für den Weinbau in Indien. Nach einem Studium in Kalifornien hat er in der Region Nashik ein Weingut aufgebaut.
Rajeev Samant ist ein Pionier für den Weinbau in Indien. Nach einem Studium in Kalifornien hat er in der Region Nashik ein Weingut aufgebaut.

Varad fällt aus dem Rahmen. Sein fließendes Englisch überrascht – für einen Landarbeiter in Indiens Weinregion ist das ungewöhnlich. Der knapp 30-Jährige arbeitet für Rajeev Samant, den Pionier des indischen Weinbaus, auf dessen legendärem »Sula Wineyard«. Hier verdichtet sich, was das moderne Indien ausmacht: eine Gesellschaft der Gegensätze, in der eine aufstrebende Mittelschicht und die High Society Wein verkostet, während Arbeiter wie Varad unter prekären Bedingungen die Grundlage für diesen Genuss schaffen.

Das Weingut liegt eine Viertelstunde Autofahrt von der Metropole Nashik im westlichen Indien entfernt und erstreckt sich über mehr als 700 Hektar hügeliger Landschaft. Das ockerfarbene, mehrstöckige Hauptgebäude fügt sich harmonisch in die Umgebung ein, umgeben von anderen stilvollen Weingütern. Wer einmal in der Toskana war, fühlt sich ein wenig daran erinnert. Nur, dass Englisch oder Maharashtra statt Italienisch gesprochen wird. Und dass hier Mangobäume sowie Kokospalmen im Wind wippen und keine Zitronenbäume.

Soziale Architektur des Genusses

Schon die Anlage des Weinguts erzählt von sozialer Selektion. Ein großzügiger Parkplatz empfängt Besucher aus dem ganzen Land, schattige Sitzbänke laden zum Verweilen ein, Kieswege führen zu den Rebzeilen, Infotafeln erklären den Weinbau. Und wie in Indien üblich, sorgen Eingangskontrollen für eine subtile, aber wirksame Auslese. Wein bleibt der aufstrebenden Mittelschicht und der wirtschaftlichen Elite vorbehalten.

Das Weingut »Sula Wineyard« ist das größte in Indien und umfasst rund 700 Hektar Anbaufläche.
Das Weingut »Sula Wineyard« ist das größte in Indien und umfasst rund 700 Hektar Anbaufläche.

Varad kann diese andere Welt manchmal aus der Ferne beobachten. Im weitläufigen Inneren des Hauptgebäudes flanieren wohlhabende Paare und Familien, versammeln sich neureiche Frauen und Männer in Gruppen. Sie entspannen auf der repräsentativen, lichtdurchfluteten Terrasse, genießen Wein, Musik und den Panoramablick auf die Weinberge. Im Untergeschoss verkosten sie Riesling oder Merlot, machen Selfies und posten diese auf ihren Social-Media-Kanälen. Weintrinken gilt in Indien als Statement von Eleganz und Weltgewandtheit.

Diese Weinkultur wächst rasant. Weinbars eröffnen und edle Tropfen sind in Fachgeschäften erhältlich. Dabei kann der Subkontinent auf keine jahrhundertealte Weinbautradition zurückblicken. In mehreren Bundesstaaten ist Alkohol nach wie vor gesetzlich verboten. Vor der Corona-Pandemie konsumierte jeder Inder im Schnitt gerade einmal 20 Milliliter Wein pro Jahr – die Deutschen kommen auf über 20 Liter.

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Boom ohne Tradition

Aber der Wein aus Nashik hat sich inzwischen einen Namen gemacht. Ihn gibt es sogar im europäischen Fachhandel. Sula, Varads Arbeitgeber, gilt als Symbolfigur dieses Booms. Daneben drängen zahlreiche kleinere Güter auf den Markt und haben ein vielfältiges Sortiment mit mehr als einem Dutzend verschiedener Rebsorten geschaffen.

Varad kam eher zufällig zu Sula. Er sei auf der Suche nach einer festen, besser bezahlten Anstellung gewesen, erzählt er. Natürlich kennt er die Geschichte seines Arbeitgebers. Rajeev Samant studierte an der Stanford University in Kalifornien und entdeckte dort seine Leidenschaft für Wein. 1996 kehrte der heimatverbundene junge Mann nach Indien zurück, entschlossen, etwas zu bewegen. Seine Familie besaß Land und war nicht unvermögend – gute Startbedingungen für ein Experiment.

Bis Samant die ersten Weinstöcke pflanzte, verging ein Jahr. Dann aber ging alles schnell. Er gründete die Firma Sula und lieferte zur Jahrtausendwende die ersten Flaschen an den indischen Handel. Varad erklärt die geografischen Vorteile der Region: »Samant begriff, dass Nashik mit seiner unverwechselbaren Lage in Indien ein idealer Ort für den Weinbau sein kann.« Das heiße, fast tropische Klima tagsüber, die relativ kühlen Nächte und der jährliche Monsun schaffen optimale Bedingungen.

»In der trockenen Jahreszeit wird täglich gewässert«, erklärt Varad. Dass er mit der Presse spricht, weiß sein Chef nicht. Auf schriftliche Anfragen hat dieser nicht reagiert. Varad muss also vorsichtig sein, was er sagt, Ärger will er sich nicht leisten.

Die Arbeitsbedingungen in Indiens knapp 90 Kellereien sind alles andere als glamourös. Varad arbeitet täglich zehn, »manchmal auch zwölf Stunden«, berichtet er. Kontrollen wegen Arbeitszeitverstößen bleiben die Ausnahme. Sein monatliches Einkommen schwankt zwischen umgerechnet 160 und 250 Euro – kein Hungerlohn, aber auch nicht üppig.

»Ich bin Arbeiter, kein Weintrinker.«

Varad

Manne Pentil, der am Stadtrand von Nashik ein Metallbauunternehmen betreibt, kennt die Realität der Landarbeiter: »Die Winzer arbeiten oft aber unter schlechten hygienischen Bedingungen oder ohne ausreichenden Schutz, was ihre Gesundheit beeinträchtigen kann.« Winzer seien ebenso wie viele andere Arbeiter in Indien kaum organisiert, sagt Pentil. Rund 90 Prozent der Beschäftigten in Indien arbeiten in Branchen ohne nennenswerte gewerkschaftliche Vertretung. Auch Varad erzählt, dass er auf dem Weingut nicht organisiert sei. »Was soll das bringen?«, meint er und winkt ab. Er glaubt nicht an die Vorteile einer Gewerkschaft, die ihn arbeitsrechtlich vertritt.

Die Terrasse mit den wohlhabenden Weingästen hat Varad nie betreten. »Ich bin Arbeiter, kein Weintrinker«, stellt er nüchtern fest. Von seinem Lohn könnte er sich durchaus Wein leisten, doch er investiert das Geld lieber in die Bildung seiner beiden Kinder. In einem Land mit 1,4 Milliarden Menschen und brutalem Konkurrenzkampf entscheidet Bildung über den Lebensweg mehr als anderswo. Abschlüsse zahlen sich aus – dafür nimmt Varad die tägliche schwere Arbeit in den Weinbergen auf sich. Auch wenn das einen gravierenden Nachteil hat: Denn die langen Arbeitszeiten belasten das Familienleben, wie Varad beim Wassertrinken nachdenklich erzählt: »Ich sehe meine Familie nur morgens und abends und wenn ich mal freihabe. Das ist allerdings nur selten.« An eine Work-Life-Balance ist bei ihm kaum zu denken.

Einfache Angestellte und Arbeiter haben lediglich einen Tag in der Woche frei, und in Indien gibt es kaum mehr Urlaub als 15 bis 21 Tage im Jahr. Bezahlter Mindesturlaub wird erst gewährt, ist man mindestens ein Jahr im Betrieb. Varad würde gerne einmal nach Frankreich reisen, um dort die Anbaugebiete kennenzulernen. Seine Augen leuchten bei dem Gedanken: »Frankreich und Wein eben«, lacht er und hofft, dort eine Weinkultur kennenzulernen, die weniger ausschließend ist als die in seiner Heimat.

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