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Drohneneinsätze in aktuellen Kriegen: Tiefe Spuren
Der größte dokumentierte Drohneneinsatz in einem modernen Krieg hat fatale Auswirkungen auf die Menschen in der Ukraine. Er verändert das ganze Land
Für Yehor Babenko war es ein langer Weg, bis er nach seinem Kriegseinsatz seine Stimme wiederfand. Wenn er jetzt spricht, flüstert er. Denn unter seinem Kehlkopf ragt ein Rohr aus seinem Hals. Das liegt daran, dass Babenko nicht nur äußere, sondern auch komplexe innere Verbrennungen erlitten hat. Sein Gesicht ist gezeichnet, seine Haut vernarbt. Es ist kaum vorstellbar, was für Schmerzen es gewesen sein müssen, wieder zu heilen. Seine Geschichte ist eine von vielen Menschen in der Ukraine, deren Leben sich durch den Krieg für immer verändert hat.
In der Nacht vom 8. auf den 9. März 2022 wurde der damalige Grenzschützer bei einem Einsatz schwer verletzt. Der junge Mann erlitt schwere Verbrennungen an Kopf, Gesicht und Händen. Alles, woran er sich aus der Nacht erinnern kann, ist Feuer. Und dass es so schwer war, zu atmen. Er lag wochenlang im Koma, verlor alle zehn Finger. Zwei Jahre lang wurde er in Barcelona behandelt, dann kehrte er im Oktober 2024 in die Ukraine zurück – und in eine neue Rolle.
Seinen Platz hat er nun hier gefunden: im sportlich-rehabilitativen Veteranenzentrum »Tytanovi« in Kiew, übersetzt heißt das »aus Titan gemacht«. Im großen Trainingsraum herrscht reges Treiben: Verwundete Veteranen üben mit Beinprothesen auf dem Laufband, am Barren oder an Sprossenwänden. Hier wird er gebraucht. Inmitten einer Traube von Männern steht er, sie alle schauen auf einen Bildschirm und beraten über die Behandlung eines Patienten. Babenko ist hier Psychologe. »Ich wollte helfen«, sagt er.
Sein Wissen ist wertvoll. Er versteht die Situation seiner Patient*innen besser als jeder andere. Ein ziviler Psychologe könnte sich nicht einmal vorstellen, was diese Menschen durchgemacht haben – Babenko schon. Yehor Babenko ist Jahrgang 1998, hat Psychologie studiert und diente nach seinem Abschluss an der Militärakademie seit 2020 beim Grenzschutzdienst der Ukraine. Er wirkt ruhig, fast sanft, doch man spürt: Er hat sich hierher zurückgekämpft – und will bleiben.
Ein Ort für Heilung
»Tytanovi« ist eines von mehreren ukrainischen Rehabilitationszentren, spezialisiert auf Veteran*innen mit Amputationen. Am Eingang wird man von zwei Nymphensittichen empfangen, die Flure sind bunt gestaltet – Kriegshelden, Fahnen und Menschen, die gespendet haben, wurden hier verewigt. Medaillen an den Wänden erzählen von den Erfolgen der Patient*innen wie Triathlons oder Bergbesteigungen. Alles schreit Hoffnung. Es gibt gemütliche Sofas, verschiedene Trainingsräume, und in der Küche – typisch ukrainisch – fermentiert Gemüse in alten Marmeladengläsern.
Die Kameradschaft hier ist so offensichtlich, so stark, so zäh wie Gummi. Jeder feuert jeden an, den ersten Schritt zu machen, zu kämpfen, gesund zu werden. Die meisten Patienten sind junge Männer, die sich an die neue Lebenssituation gewöhnen müssen. Es gibt die unterschiedlichsten Krankheitsbilder, einige sind für ihr restliches Leben an den Rollstuhl gefesselt, anderen wiederum steht mit den richtigen Prothesen ein relativ normales Leben bevor. Manche haben Depressionen, die Sinnhaftigkeit des Lebens verloren, trinken Alkohol, um ihren inneren und äußeren Schmerz zu betäuben. Andere wiederum gehen oder rollen gut gelaunt durch den Flur, halten kurz an, um mit Besucher*innen zu quatschen. Sie rauchen draußen in der Sonne mit ihren Kumpels. Was bei den meisten dennoch mitschwingt, ist die Sehnsucht nach der Zeit vor dem Krieg.
Was Drohnen mit Menschen anrichten
Die Ukraine ist im vierten Jahr im Krieg mit Russland, und natürlich hat er tiefe Spuren hinterlassen. Nicht alle Verletzungen passieren an der Front. Fast täglich greift Russland mit Drohnen an, vor allem werden Shahed-Kamikazedrohnen aus iranischer Produktion eingesetzt. Dabei trifft es nicht nur Infrastruktur und militärische Ziele, sondern auch Wohnhäuser, Einkaufszentren, Schulen. Drohnen werden oft auch gegen zivile Ziele eingesetzt, was als Terrorstrategie gilt. Die Drohnenangriffe zielen auf die Moral – und treffen die Körper. Explosionen reißen Menschen aus dem Leben oder machen sie zu Pflegefällen. Die Ukraine erlebt derzeit den größten dokumentierten Drohneneinsatz in einem modernen Krieg. Die Zahl der Amputierten wächst täglich.
Die psychischen Folgen sind enorm: All das hinterlässt tiefe Spuren, am ehesten zu sehen auf den Gesichtern der Menschen, die hier leben. Der ständige Lärm und die damit drohende Gefahr der Drohnen versetzen viele Ukrainer*innen in einen Zustand permanenter Anspannung – selbst in der Nacht kommen sie kaum zur Ruhe. An einen erholsamen Schlaf ist seit über drei Jahren nicht zu denken, weil jederzeit ein Angriff drohen könnte. Die Angst ist allgegenwärtig und hat sich tief ins kollektive Bewusstsein eingebrannt: Viele Betroffene berichten von Schlafstörungen, Panikattacken und einem Gefühl völliger Hilflosigkeit.
Für schwer verwundete Soldat*innen ist es meist besonders schwer, nach einer Amputation wieder ihren Platz in der Gesellschaft zu finden. Deshalb werden sie in den Rehabilitationszentren nicht nur physisch, sondern auch psychisch betreut. Einige von ihnen gehen sogar an die Front, in den aktiven Dienst zurück. Genaue Zahlen dazu, wie viele es sind, gibt es nicht. Vermutlich, weil offene Kommunikation darüber das Ausmaß des Leids konkreter fassbar machen und somit die Bevölkerung demoralisieren könnte.
Krieg in der Popkultur
Dass das Thema Behinderung in der Ukraine sichtbar wird, ist neu. Und es ist sogar in der Popkultur angekommen: Im Herbst 2024 war Oleksandr Budko, ein Veteran mit beidseitiger Unterschenkel-Amputation, Hauptkandidat der ukrainischen Version der Show »Der Bachelor«. In dieser Art von Dating-Show wählt ein Single-Mann aus einer Gruppe von Kandidatinnen im Verlauf romantischer Dates eine potenzielle Partnerin aus. Der ehemalige Soldat Oleksandr Budko verlor seine Beine, als eine russische Drohne in unmittelbarer Nähe explodierte. Doch das hält ihn von relativ wenig ab: Neben seinem Auftritt als Bachelor ist er Autor und Aktivist, besucht Veteran*innen in Krankenhäusern.
In seiner eigenen Webshow reist er durch ukrainische Städte und testet sie auf Barrierefreiheit. »Es gibt noch immer ein Problem mit dem Stigma. Ich bin zu ›Der Bachelor‹ gegangen, um es anzusprechen.« Und das ist wichtig: In der Bevölkerung muss Aufklärung und Akzeptanz geschaffen werden, und sei es über das Unterhaltungsfernsehen. Denn die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen wurden in der Ukraine bisher weitgehend vernachlässigt. Amputationen zählen zu den sichtbarsten und schwerwiegendsten Kriegsverletzungen. Für die Ukraine ist und wird es eines der zentralen Themen bleiben, wie das Land und die Gesellschaft mit der wachsenden Zahl von Menschen mit Amputationen und anderen Behinderungen umgehen und deren neue Realität gestalten.
Laut einer gemeinsamen Studie der EU, der ukrainischen Regierung, der Weltbank und der Vereinten Nationen aus dem Jahr 2023 sind rund 73 Prozent der Luftschutzbunker in der Ukraine für Menschen mit Mobilitätsproblemen nicht zugänglich. Auch wenn Notunterkünfte nicht barrierefrei gestaltet sind, werden Menschen mit Behinderungen erheblich benachteiligt. Rollstuhlfahrende und Personen mit eingeschränkter Mobilität stoßen auf erhebliche Hindernisse beim Zugang zu Schutzräumen, insbesondere in städtischen Gebieten wie Kiew.
Diese mangelnde Barrierefreiheit hat dazu geführt, dass viele Menschen mit Behinderung während Bombenangriffen in ihren Wohnungen verbleiben müssen, da sie keine geeigneten Schutzräume erreichen können. Oder aber wenn durch die Angriffe der Strom knapp wird, dann werden in Wohnhäusern die Fahrstühle abgeschaltet. Gehbehinderte Menschen kommen dann weder rauf noch runter. Einige sind in solchen Situationen gezwungen, sich im Badezimmer zu verstecken, um sich vor Angriffen zu schützen.
Das kritisiert auch der Psychologe Yehor Babenko: »Städte in der Ukraine sollten besser ausgestattet sein.« Und zieht einen direkten Vergleich mit Spanien: »Dort gibt es keinen Krieg und auch nicht so viele Menschen mit Behinderungen wie hier. Und trotzdem haben sie dort alles, was Menschen mit Behinderungen brauchen, um sich wohlzufühlen.« Beispielsweise könne man in Barcelona problemlos die U-Bahn erreichen, an jeder Station gebe es einen Aufzug. Von den 165 Metrostationen in Barcelona sind 153 (etwa 93 Prozent) vollständig barrierefrei. Sie verfügen über breite Eingänge und ebenerdige Zugänge. Von den Gehwegen zeigt er sich überzeugt, an Fußgängerüberwegen sind die meisten Bürgersteige abgesenkt. Auch die taktilen Leitsysteme für sehbehinderte Menschen funktionieren gut. »Ich kann nicht sagen, dass es in der Ukraine bei null liegt, aber es wird sehr wenig getan.«
Und die ukrainische Bevölkerung?
Viacheslav Zaporozhets, Gründer und Leiter von »Tytanovi« ärgert sich über die Situation. »Wir haben 100 000 verwundete Veteran*innen, und die Gesellschaft ist nicht akzeptierend genug.« Die Zahl basiert auf Schätzungen des Gesundheitsministeriums. »Diese Menschen haben komplexe Verletzungen, erleiden große Schmerzen, Familien wurden zerstört.«
Damit spricht er ein noch viel größeres Problem an: Was passiert mit den Menschen, wenn sie aus den Krankenhäusern und Rehabilitationszentren entlassen werden und einen neuen Alltag finden müssen? Wie funktioniert eine Wiedereingliederung in die Gesellschaft?
»Wenn wir nicht damit anfangen, uns um diese Menschen zu kümmern – indem wir Arbeitsplätze schaffen, mit ihnen über ihre psychische Gesundheit sprechen und ihnen Respekt zeigen –, dann werden sie anfangen zu rebellieren«, warnt Zaporozhets. »Es wird zu Aufständen von Veteran*innen kommen, die nichts zu verlieren haben. Und diese Menschen wissen, woher man Waffen bekommt, wie man Waffen herstellt und wie man sie benutzt.«
Als Beispiel für den fehlenden Respekt zieht Zaporozhets einen Vergleich zum Umgang mit Veteran*innen in den USA. Dabei geht es nicht nur um alltägliche Gesten, sondern auch um symbolische Anerkennung: Oftmals gibt es in Flugzeugen, Stadien oder bei Veranstaltungen reservierte Ehrenplätze für Veteran*innen. »Leider gibt es das bei uns nicht«, bedauert er. »Unsere Veteran*innen sitzen im Rollstuhl irgendwo zwischen den Gängen.«
Widerstand durch Sichtbarkeit
Um mehr Sichtbarkeit zu schaffen, hatte Zaporozhets eine Idee: ein Café für Veteran*innen. Das öffnete im Dezember 2024 an keinem anderen Ort als inmitten einer Shoppingmall: Die Respublika Park Mall ist eines der größten Einkaufs- und Freizeitzentren in der Ukraine und zählt zu den größten in Europa. Vergleichen kann man es mit einer osteuropäischen Version von Disneyland. Neben den Geschäften und der prunkvollen Dekoration fährt auf quietschgelben Gleisen mitten durch die Mall eine Achterbahn. Es gibt ein (kleines) Riesenrad, hochgewachsene Pflanzen und eine Art Wasserpark.
Veteran Fedir Samborskyi leitet »Café Tytanovi«: »Die Motivation für das Café war die Erkenntnis, dass wir einen inklusiven Raum schaffen müssen, um die Aufmerksamkeit der Gesellschaft auf unsere Herausforderungen zu lenken. Denn niemand versteht unsere Bedürfnisse und Fähigkeiten besser als wir selbst.« Militärisches Personal und Veteran*innen bekommen hier kostenlos Kaffee. Außerdem werden für das Rehabilitationszentrum Spenden gesammelt. Seine Philosophie ist simpel: Veteranen werden sichtbar, wenn sie aufhören zu schweigen, wenn ihre innere Stärke zum Vorschein kommt.
Fedir Samborskyi, Yehor Babenko und Oleksandr Budko gehören zu jenen Menschen, die vom Krieg gezeichnet sind. Sie versuchen sichtbar zu machen, was der Krieg angerichtet hat – und fordern die Gesellschaft auf, ihr verändertes Erscheinungsbild als neue Realität anzuerkennen.
Diese Reportage wurde durch die Initiative »Women on the Ground: Reporting from Ukraine’s Unseen Frontlines« der International Women’s Media Foundation in Partnerschaft mit der Howard G. Buffett Foundation unterstützt.
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