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Massenvertreibung im Gazastreifen
UN-Organisation kritisiert katastrophale humanitäre Lage, während Israel die Militäroperationen ausweitet
Der Gazastreifen wird zunehmend zu einem Ort, an dem Essen und Trinken lebensgefährlich sind. Am Sonntag hatte ein Konvoi des Welternährungsprogramms (WFP) der Vereinten Nationen gerade den Grenzübergang Zikim im Norden des dicht bevölkerten Landstrichs passiert, 25 Lastwagen, beladen mit jeweils 20 Tonnen an Nahrungsmitteln, sehnsüchtig erwartet von Tausenden, die darauf hofften, etwas davon abzubekommen.
Doch stattdessen hätten israelische Scharfschützen und Panzer das Feuer eröffnet, mindestens 67 Menschen starben, viele weitere wurden verletzt. Das israelische Militär teilte später mit, Truppen hätten zunächst »Warnschüsse« abgegeben, »um eine unmittelbar von den tausenden von Menschen ausgehende Bedrohung abzuwenden.« Man prüfe derzeit die Details.
Hilfsorganisationen sprechen von neuem Ausmaß des Hungers
Die Berichte der Organisationen, die versuchen, Hilfe zu leisten, sind indes übereinstimmend, sprechen eine deutliche Sprache: Die Hungerkrise im Gazastreifen habe »ein neues Ausmaß der Verzweiflung« erreicht, heißt es in einer WFP-Stellungnahme: 90 000 Kinder und Frauen litten mittlerweile unter Mangelernährung. Ein Drittel der Menschen habe über mehrere Tage nichts zu essen. Für die meisten Menschen im Gazastreifen seien Hilfslieferungen die einzige Möglichkeit, an Nahrung zu gelangen. Ein Kilo Mehl koste in den Läden mittlerweile 100 US-Dollar.
Anders als in den meisten anderen Krisengebieten der Welt gibt es im kurzen und schmalen Gazastreifen auch keinen Ort, an dem die Menschen dauerhaft Schutz finden können. Die Grenzen nach Ägypten und Israel sind hermetisch abgeriegelt, nur wenige können ausreisen. Wer es tut, muss damit rechnen, nicht wieder zurückkehren zu können: Denn viele in der rechtsextremen Regierungskoalition würden die Bevölkerung Gazas am liebsten komplett in die arabischen Staaten vertreiben, um die israelischen Siedlungen wiederaufzubauen.
Und dann versucht Israels Militär immer noch, die Hamas zu zerstören, was bedeutet: Es kann jederzeit passieren, dass eine Verlagerung der Kämpfe in Gebiete entschieden wird, in die sich gerade erst Zehntausende geflüchtet hatten. So zum Beispiel am Sonntag, als die Menschen in Deir Al-Balah plötzlich eine Evakuierungsaufforderung des israelischen Militärs erreichte. Die Stadt im Zentrum des Gazastreifens war eine der letzten, die bislang weitestgehend von den Kämpfen verschont geblieben war. Israels Geheimdienste vermuten, dass sich dort viele der mindestens 20 noch im Gazastreifen festgehaltenen israelischen Geiseln aufhalten könnten.
Israels Generalstabschef will weitere Gebiete besetzen
In den vergangenen Monaten wurde der Ort aber auch zum Knotenpunkt für die Verteilung von Hilfsgütern. Am Montagmorgen war auch dies dann Geschichte: Deir Al-Balah wurde bombardiert, Zehntausende mussten flüchten.
Generalstabschef Eyal Zamir schlug der Regierung derweil vor, größere Gebiete zu besetzen, was auch eine Ausweitung des Kampfgebiets bedeuten würde. Denn Regierungschef Benjamin Netanjahu und Verteidigungsminister Israel Katz haben vor, im Süden des Gazastreifens eine »humanitäre Stadt« zu bauen, in der Hunderttausende interniert werden sollen; ein Plan, der außerhalb der israelischen Rechten universale Verdammnis hervorgerufen hat. Zamir scheint zu hoffen, dass es einfacher wäre, unter israelischer Besatzung für menschenwürdige Bedingungen zu sorgen.
Nur: Die Hamas hat sich nun auf den Guerilla-Kampf verlegt; ihre regierungsähnlichen Strukturen sind nahezu vollständig zusammengebrochen. Dennoch gehen die Waffenstillstandsverhandlungen in Katar weiter: Eine Annäherung sei extrem schwierig, zitiert das Nachrichtenportal »Times of Israel« anonyme Quellen.
Eine Perspektive für Gaza nach dem Krieg fehlt
Hinzu kommt aber auch: Es ist völlig offen, wie es mit dem Gazastreifen nach Kriegsende weitergehen könnte. Aus israelischer Perspektive sitzt das Trauma des Massakers vom 7. Oktober 2023 sehr tief. Es hat das gesamte Ausmaß der Bewaffnung und Gewaltbereitschaft der Hamas gezeigt. Seit 2007 hatte es mehrere Kriege gegeben, die verhältnismäßig schnell mit Waffenstillständen endeten. Und mit einer noch weitergehenden Aufrüstung durch die Hamas. Ursprünglich war das Kriegsziel gewesen, die Geiseln zurückzuholen und zu verhindern, dass das wieder passiert.
Die palästinensische Regierung in Ramallah hofft derweil darauf, dass Staaten wie Großbritannien Palästina als unabhängigen Staat anerkennen. In der derzeitigen Situation würde ihr das neue Legitimation verschaffen und, so die Kalkulation, helfen, in der eigenen Öffentlichkeit den Machtanspruch der Hamas zu kontern. Am Sonntagabend forderte Präsident Mahmud Abbas die Weltgemeinschaft in einem offenen Brief dazu auf, Druck auf Israels Regierung auszuüben, in ungewöhnlich scharfen Worten. Denn Abbas hat sich in den vergangenen Jahren den Ruf erworben, eine Marionette Israels zu sein.
Doch eine Perspektive für den Gazastreifen hat auch seine Regierung nicht vorzuweisen. Vor Monaten hatte man mit der Hamas die Einrichtung eines zwölfköpfigen Expertenrats vereinbart, der den Gazastreifen anstelle der Hamas führen sollte. Davon hört man seitdem nichts mehr.
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