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Gehen auf dünnem Eis
Als Studenten Hanns Zischler und Hans-Jörg Rheinberger übersetzten Jacques Derridas »Grammatologie«. Ein Hausbesuch 50 Jahre danach
In einem Gespräch in einer Wohnung im alten Berliner Westen beschreiben Hans-Jörg Rheinberger und Hanns Zischler, wie ihre Lektüre von Jacques Derridas »De la Grammatologie« vor gut 50 Jahren in einen Prozess des Übersetzens mündete. Ihr Umgang mit Sprache glich einem »linguistischen Kardiogramm«: Einzeln wurden die Worte auf all ihre möglichen Bedeutungen abgehört. Geschrieben wurde zu zweit ab Herbst 1969 auf einer Reiseschreibmaschine. Fünf Jahre später, Ende November 1974 erschien die »Grammatologie« auf Deutsch, im Juni 1975 veröffentlichte die »Süddeutsche Zeitung« Lothar Baiers Rezension, die dieses Buch Derridas in Deutschland endgültig zum Allgemeingut werden ließ.
Eine 68er-Geschichte
Der Täter kehrt zum Tatort zurück, so sagt man – und das heißt, dass der Täter, wenn man ihn in seinem Zuhause sucht, manchmal dort nicht anzutreffen ist. Als wir vor Hanns Zischlers Wohnung im Berliner Westend eintreffen, stehen wir also vor verschlossener Tür, denn Zischler ist, sei es ein Missverständnis, sei es ein Automatismus, an den Schauplatz des Projektes zurückgekehrt, über das wir im Folgenden sprechen werden. Wir folgen also dem »Täter« an den »Tatort«, dieser befindet sich in der Knesebeckstraße und ist direkt neben dem Haus, in dem Hans-Jörg Rheinberger heutzutage wohnt. Eine Hausnummer weiter lebte er damals, in den 1960er und 70er Jahren, zu siebt mit wechselnden Mitbewohner*innen in einer Wohnung von derselben Größe wie die, in der er aktuell allein mit seiner Frau lebt. Dort traf er sich mit Hanns Zischler, zum Übersetzen. Sie arbeiteten zu zweit an einer Schreibmaschine, genau gesagt einer Reiseschreibmaschine.
Als Kind sei er einmal ins Eis eingebrochen, erzählt Hanns Zischler an einem massiven, zum Schreibtisch umfunktionierten Esstisch in der Knesebeckstraße. Das Missverständnis, das dem Kind unterlief: Es drehte nicht um und kehrte ans feste Land zurück, sondern ging einfach weiter. Immer wieder sei er eingebrochen, dennoch immer weiter vorwärtsgelaufen – Halt suchend auf der Materie, die sich unter den eigenen Beinen verflüchtigte, oder zumindest die Haltlosigkeit genießend. Ebenso haltlos war es damals, in den 60er und 70er Jahren, Derrida zu lesen – und dann auch noch zu übersetzen. »Learning by learning« nennen Rheinberger und Zischler das Prinzip und beschreiben, wie die Lektüre eines Werkes, das man heutzutage ein Standardwerk der »Dekonstruktion« nennen kann, in den Prozess des Übersetzens mündete.
Die Universität, so beschreiben es Zischler und Rheinberger, war damals ein Ort des Hörens, des radikalen Zuhörens. Man hatte Zeit – das ist vielleicht der auf den ersten Blick bemerkenswerteste Unterschied zur Gegenwart, der recht schnell deutlich wird. An diesem zum Schreibtisch umfunktionierten Esstisch sitzen immerhin drei Generationen, die alle auf unterschiedliche Weise studiert und die Stadt dabei erlebt haben.
Zwischen Theorie und Literatur
»Derrida verlässt nicht, er ist verlässlich«, wiederholt Hanns Zischler und stellt damit nicht nur fest, welch nachhaltige Wirkung die Vertiefung in die Sprache Derridas hatte. Vielleicht stellt er auch performativ dar, wo genau das dünne Eis, das man nicht verlassen konnte, sich gebildet hatte: auf der Wasseroberfläche der Sprache, nein, sogar der Schrift. Derrida ist zuverlässig, weil er die Welt der Worte als unzuverlässig erscheinen lässt – und diese Unzuverlässigkeit ist belebend, bewegend, ein zum Glück unmögliches, unendliches Projekt. Vielleicht ist das der Grund dafür, dass Rheinberger und Zischler mehrmals darüber sinnieren, wie es wäre, das Projekt »Grammatologie« noch einmal anzugehen, fünfzig Jahre später eine zweite, eine neue, eine zeitgenössische (und bald wieder historische) Neuübersetzung anzufertigen. Bei Derrida ist die Zeitrechnung, das Narrativ des Lebens und des Wissens, der Wissenschaft, nicht linear zu verstehen. Zeit wird von ihm nicht als eine Abfolge von Jetztpunkten verstanden, da sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in ständigen Verschiebungen und Verweisen durch Aufschub und Vorschub von Bedeutung überlagern.
Die Sprache als etwas Fluides zu betrachten ist ganz im Sinne Derridas, der die eigene Muttersprache zur Fremdsprache werden lässt, vor allem in der besonderen Fern-Nähe, die sich im Akt des Übersetzens einstellt. Das ist nur ein Aspekt an dem nach wie vor schwer zu definierenden Projekt der sogenannten Dekonstruktion, die sich an der Schnittstelle zwischen Literatur und Theorie befindet. Vielleicht ist es kein Zufall, dass Derrida seine Laufbahn als Schreibender mit der Übersetzung eines kurzen Textes des Philosophen Edmund Husserl begann: Die Übersetzung ist eine eigene, wenn auch unterrepräsentierte Kunstform. Eine Kunstform, die die Affirmation der Lücke zwischen dem Zeichen und dem, was es bezeichnet, zur Grundlage nimmt. Sie ist, per se, ein Spazieren auf dünnem Eis, ist immer Auslegung, Autorschaft und nie nur eine Leistung im Dienst der Sprache. Es bedeutet, sich etwas ganz hinzugeben, was es noch nicht gibt: Dem dünnen Eis der Schrift, das man erschafft, übersetzend. Man rettet sich mit, durch, auf dem Material, das einen verlässt und im Stich lässt, gerade weil es die Unsicherheit repräsentiert – eine Unsicherheit, die lockt, die verführt, die heimsucht. Denn, noch mal: »Derrida ist verlässlich, er verlässt einen nicht«. Derrida zu übersetzen, heißt, die (eigene) Sprache neu kennenzulernen; ein ebenso persönlicher wie universeller Paradigmenwechsel.
Grundsätzliche Systemzweifel
Vielleicht ist dieser Wechsel paradigmatisch für die Zeit, jene 1970er Jahre in Berlin, in denen die Nachkriegsära Konrad Adenauers, das Vergessen und Verdrängen der Nazizeit endlich infrage gestellt wurden und an der Freien Universität Berlin – jener Lebenswelt der beiden Übersetzer Zischler/Rheinberger – die Selbstwirksamkeit im Seminarraum das Zuhören im Hörsaal ablöste: »1968 begann«, erinnert sich Hans-Jörg Rheinberger, »die selbstorganisierte Lektüre in den unabhängigen studentischen Arbeitskreisen. Das war eine völlig neue Arbeitsweise«. Spezifisch ist dieser Wechsel aber eben auch für das Werk »Grammatologie«, das eher stört und verstört als zu systematisieren und zu erklären. Und dafür, dass die beiden Übersetzer das Werk, dem sie sich damals so intensiv widmeten, erst teilweise gelesen hatten. Tastend, horchend, nachfühlend widmeten sie sich, Wort für Wort, Satz für Satz, dem Unbekannten. Rheinberger beschreibt das als ein Denken mit den Händen. Erkenntnisse, die sich über die tippenden, suchenden Finger auf der Schreibmaschine ergeben. Das Stethoskop wird an die Worte gelegt, der Zweifel über das Gehörte und darüber, wie man es zu interpretieren hat, ist der stetige Begleiter der beiden Übersetzer bei ihrer Tätigkeit – zum Glück. Denn der grundsätzliche Zweifel an den Systemen und Weltanschauungen ist auch die Grundlage für die Theorie Derridas, bei der radikal alle Urteilssysteme unterminiert werden. »Belebende Skepsis« nennen die beiden das, und tatsächlich ist es dies auch für uns Zuhörende.
Man kann Derridas »Grammatologie« ebenso als eine frühe Medientheorie lesen wie als Traktat über die Zeit. Und eine Meditation zur Zeit, ebenso wie eine kleine Zeitreise, ist auch unsere Begegnung in der Knesebeckstraße. Wir streifen eine Zeit, in der die Linguistik das Untersuchungsobjekt ist, in welcher die Beschäftigung mit der Sprache weder als Bild noch als Sprechakt fungiert, sondern als Spurensuche, vielleicht auch im Zeichen des Unbehagens gegenüber Autorität, wie sie der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts eigen ist. Geschichtete Spuren von Geschichte und Bedeutung, übereinanderliegend.
Gramma – das heißt auf Altgriechisch »Spur«. Wir streifen, wir erleben, an diesem zum Schreibtisch umdefinierten Esstisch, Spuren einer Zeit, in der man zu siebt in einer Altbauwohnung auf der Knesebeckstraße lebte, in der man jahrzehntelang studierte, in der man in die Tiefe studierte und nicht in die Breite. Es war eine Zeit, in der man sich als Studierende verlieren wollte, statt effizienter zu werden, sich zwischen den Disziplinen ausprobieren wollte – wie Hans-Jörg Rheinberger, mäandernd zwischen Althusser und hartem Biologiestudium, und Zischler, auf halbem Weg schon in die Theaterpraxis. In dieser Zeit wollte man verlernen, statt zu lernen – oder wenn schon lernen, dann unendlich.
»Derrida war nie schulbildend – das Fehlen des Lehrgebäudes ist programmatisch«, sagt Hans-Jörg Rheinberger, der sich als Wissenschaftshistoriker dem Experimentieren, der Versuchsanordnung, dem Stadium des Vagen, der noch-ungeschriebenen Geschichte(n) widmet, immer forschend an der Materialität des Forschungsobjektes. »Die Grammatologie eröffnete eine völlig neue Form der Lektüre. Sie ist ein Jahrhundertbuch, ohne dabei eine Wissenschaft zu begründen, ein gleichzeitiges Unterlaufen und Übersteigen dessen, was als Wissenschaft rezipiert wird«. Im Sich-Einlassen, im Lesen, wird man zur Mitschreibenden. In diesem Fall ist es immer auch ein Dialog, oder ein Gespräch – mit dem abwesenden Derrida, mit der französischen Sprache, mit der fremd gewordenen (und ohnehin höchst aufgeladenen, mit Misstrauen zu betrachtenden) Muttersprache, mit dem damals so zeitgenössischen Medium der Schreibmaschine, miteinander und jetzt auch mit uns, nur eine einzige Hausnummer vom »Tatort« entfernt. Auch wir lassen uns ein und werden darin zu Lesenden, zu Mitschreibenden. Das Lesen ist, im Sinne Derridas, auch ein Schreiben, ein dauernder Prozess des aktiven Mitdenkens und Widerstreits, des Bedeutungsaufschubs und seiner Dekonstruktion – ebenso wie es ein Übersetzen ist. Der Text schreibt sich ein, wie von selbst, ein Paradigmenwechsel, vollzogen in sanfter Hartnäckigkeit, er ist verlässlich, er verlässt einen nicht. Er mäandert immer weiter, wie ein Flusslauf, fluide, bis in die Gegenwart – und ist dabei radikal historisch.
Von Lücken und Spuren
Die Spur, die Differenz, der Aufschub: Begriffe, die bei Derrida programmatisch ebenso wie performativ sind – und wiederum beides nicht sind, weil sie in ihrer Wiederholung zugleich Manifestcharakter haben als auch in eben diesem Prozesse der »Iteration« selbst verwischen, überlagern, ausdifferenzieren und in ihrer Bedeutung aufschieben. »Die Idee des Buches, die immer auf eine natürliche Totalität verweist, ist dem Sinn der Schrift zutiefst fremd«, heißt es in der »Grammatologie«. In der unterrepräsentierten Kunstform des Übersetzens ist diese Bewegung omnipräsent und wurde in gewisser Weise auch in unserer Begegnung auf der Knesebeckstraße spürbar: In unserem gemeinsamen Spurenlesen, in unserem Versuch, uns zu verstehen – und uns dabei fröhlich dem Missverständnis hinzugeben. Deutlich wird die Differenz spätestens, als Hans-Jörg Rheinberger einen dicken Aktenordner hervorholt: Es sind die Originaldokumente der Übersetzung, beschrieben mit den aus heutiger Sicht anachronistisch anmutenden Buchstaben der Reiseschreibmaschine, ergänzt durch handschriftliche Varianten einzelner Worte.
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All das liegt uns nun vor: die Affirmation der Lücke zwischen Zeichen und Bezeichnetem, die sich in den unendlichen Spuren der Überschreibung, des TippEx-Weiss und der Ausstreichungen in den Manuskripten der Übersetzung zeigt, darin aufscheinend zugleich die radikale Suche nach Präzision; die Hintergründigkeit der Spuren, die aufeinanderliegen, das Tasten mit den Fingerspitzen, auf dem dünnem Eis der Sprache; die Unmöglichkeit, das »Innen« vom »Außen« zu unterscheiden, der Duktus des »Sich-Befassens« um des Sich-Befassen-Willens, das dennoch oder gerade deshalb politisch ist; die provozierende Offenheit eines noch ungeschriebenen Denksystems bei sanfter Hartnäckigkeit, Urteilssysteme unterminierend, ohne neue einzuführen. Gemeinsames Schreiben als gemeinsame Navigation auf dünnem Eis; Schreiben, Lesen und Übersetzen als ununterscheidbare Bewegungsformen; die Tyrannei der Buchstaben, die Widerhaken der Sprache, das Poetische, das zur Theorie wird (und andersherum), nicht-lineare Narration, wie man sie aus der vagen Erinnerung kennt, der Text, der sich von selbst schreibt, der sich einschreibt; das große Vielleicht, für das man sich vor fünfzig Jahren die Zeit genommen hat. All das liegt nun vor uns, in Form von tatsächlicher Schrift auf tatsächlichem Papier. Papier, über dessen Beschaffenheit und Bedeutung Derrida einen 60-seitigen Essay verfasst hat, in aller Hingabe zur Vertiefung, die immer auch ein bisschen vergeblich bleibt. Man schreibt, man spricht ja, weil da immer eine Lücke, ein Missverständnis bleibt, zum Glück. Nicht dennoch, sondern deshalb sagt Zischler: »Derrida ist verlässlich, er verlässt einen nicht«.
Aber was haben die Täter, die Wiederholungstäter der »Grammatologie« zu verantworten? Vielleicht zuerst einmal den großen Einfluss, den sie mit der Verankerung der sogenannten Dekonstruktion an den Rändern des Kanons auf uns genommen haben. Selbst wenn wir keine Derrida-Expertinnen sind, ist unsere Sprache doch durchdrungen von seiner historischen Präsenz, der Verschiebung, der Lücke und ihrer Konsequenz, die bleibt. Längst sind die Begriffe des Aufschubs und der Dekonstruktion in unseren Alltagswortschatz eingegangen, und wenn Hans-Jörg Rheinberger von den Einflüssen Derridas auf seine harte Wissenschaft der Biologie spricht, dann tauchen die Idee des Nichtlinearen in neuen Begriffen wieder auf: »Auch im Experiment schichtet sich eines auf das andere und generiert dabei Rekursionen, Rückkopplungen und weitere unerwartete Effekte.« Geschichte schreibt sich nicht linear, die Spuren liegen aufeinander und übereinander, in heterogener Einheit, in überzeitlicher Präsenz, gespeichert in der Sprache. Nicht zuletzt die Stimmen der beiden Übersetzer, die sich mit uns am umfunktionierten Esstisch versammelt haben, bleiben präsent.
1976, zwei Jahre nach der Veröffentlichung der »Grammatologie« auf Deutsch, feiert Wim Wenders Film »Im Lauf der Zeit« Premiere – in einer Hauptrolle darin Hanns Zischler. Zischler ist Hybrid, ist Theoretiker ebenso wie Theatermensch und Schreibender, ebenso wie Derridas Werke selbst hybrid sind. Mit einem VW Käfer fährt der von Zischler dargestellte, verkörperte, Protagonist waghalsig in die Elbe – um dann, einigermaßen unbeteiligt wirkend, wieder aus dem Gewässer zu steigen. Es ist ein Suizidversuch ebenso wie ein Versuch, die selbstverständlich wirkenden Gegebenheiten auszutesten, herauszufordern. Ein waghalsiger, radikal lebendiger Suizidversuch, ein Austesten des Elements Wasser in seiner Fluidität. Nichts ist selbstverständlich, alles muss erlebt, verkörpert sein. Die Distanz zur Rolle, die man im sozialen Raum spielt, ist immer gegeben, man schwebt einen Meter über dem Wasser, über den Worten, über der eigenen Identität. Man geht über dünnes Eis – nicht obwohl, sondern weil man ihm nicht trauen kann.
Die Autorin führte das Gespräch mit Hanns Zischler und Hans-Jörg Rheinberger gemeinsam mit dem Journalisten Fritz von Klinggräff.
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