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»The Ugly Stepsister«: Blut ist im Schuh

In »The Ugly Stepsister« erzählt die norwegische Regisseurin Emilie Blichfeldt eine Body-Horror-Version des Aschenputtel-Märchens

  • Gabriele Summen
  • Lesedauer: 4 Min.
Erzählt wird das Horror-Märchen aus der Perspektive der angeblich hässlichen Stiefschwester Elvira (Lea Myren).
Erzählt wird das Horror-Märchen aus der Perspektive der angeblich hässlichen Stiefschwester Elvira (Lea Myren).

Brustvergrößerung, Lippen- und Faltenunterspritzung, Nasen- und Intimkorrektur – die Liste der Schönheitskorrekturen ist schier unendlich. Zunehmend strömen auch junge Leute mit bearbeiteten Fotos in Praxen und verlangen nach unrealistischen Korrekturen. Da kommt »The Ugly Stepsister«, die tiefschwarzhumorige Body-Horror-Version des Aschenputtel-Märchens von Emilie Blichfeldt, gerade richtig. Ebenso wie in dem mehrfach oscarnominierten Film »The Substance« geht es in dem bitterbösen Langfilmdebüt der norwegischen Regisseurin, das auf dem Sundance-Festival gefeiert wurde und auf der diesjährigen Berlinale in der Sektion Panorama lief, grausamen Schönheitsidealen alles andere als zimperlich an den Kragen.

Zartbesaiteten Zuschauer*innen sei von diesem Film jedoch dringend abgeraten: Erzählt wird das Horror-Märchen nämlich dieses Mal aus der Perspektive der angeblich hässlichen Stiefschwester Elvira – ein schüchternes Mädchen, das eine Zahnspange trägt und Süßkram durchaus zugeneigt ist. Um dem prolligen Prinzen Julian zu gefallen, für den sie obsessiv schwärmt, seit sie seinen schmalzigen Gedichtband in die Hände bekommen hat, lässt sie sich von dem dubiosen Dr. Esthetique die Nase zurechtmeißeln und Stich für Stich künstliche Wimpern annähen. Als Betäubung gibt es nur etwas Koks – auch für den Arzt.

Gegen Ende sieht Elvira sich sogar gezwungen, in einer besonders ekelerregenden Sequenz einen gigantischen Bandwurm hervorzuwürgen, dessen Ei sie aus Diätgründen geschluckt hat. Alles eingefangen in ungeschönten Nahaufnahmen, die so absurd-brutal sind, dass Horror und Humor Hand in Hand gehen.

Für Elviras herrische Mutter Rebekka, die den Sexismus der patriarchalen Gesellschaft tief verinnerlicht hat, ist ihre älteste Tochter die einzige Hoffnung, aus ihrer finanziellen Misere herauszukommen. Der Baron des fiktiven Königreichs Swedlandia, den die Witwe eigentlich zur Absicherung geheiratet hat, ist nicht nur rasch verstorben, sondern war auch pleite. Seine Leiche lässt sie zum Entsetzen ihrer bildhübschen Stieftochter Agnes (Thea Sofie Loch Næss) einfach in einem Hinterzimmer verwesen, steckt stattdessen ihr Geld in Elviras brutale Schönheits-OPs.

Es geht unter die Haut, wenn sie sich voll abgrundtiefem Selbsthass im Spiegel betrachtet, Hass, der ihr von außen eingetrichtert wurde.

Die von Newcomerin Lea Myren markerschütternd verkörperte Elvira lässt dies treuherzig über sich ergehen, da Prinz Julian bekanntlich die hübschesten Jungfrauen der Gegend zum Ball einlädt, und sie inständig hofft, dass er sie auserwählt. Vorerst trägt sie aber nach der Nasenoperation eine grässliche Orthese, die sie zum Gespött des miesen Prinzen macht, als sie ihm zufällig einmal im Wald begegnet. Dennoch fantasiert die rührend unschuldige Elvira in weichgezeichneten Traumsequenzen weiterhin davon, dass er sich in sie verliebt. Dafür nimmt sie auch Tanzstunden, bei denen sie fortwährend von der Lehrerin gedemütigt wird.

Doch für ihre zur Magd degradierte Stiefschwester, die sich von Anfang an hochmütig gegenüber der freundlichen Elvira verhält und charakterlich bei Weitem nicht so perfekt ist wie im Märchen, geht es am Ende genau wie für Elviras Familie um ihre Existenz. Obwohl sie mit dem knackigen Stallburschen schläft, bis die beiden von Rebekka erwischt werden und diese Agnes’ Liebhaber vom Hof jagt, bleibt ihr letztlich nichts anderes übrig, als ebenfalls zu versuchen, sich den reichen Prinzen zu angeln. Im gnadenlosen Klassenkampf in einer misogynen Gesellschaft ist Schönheit die einzige Währung, die zählt.

Nur Elviras jüngere Schwester Alma (Flo Fagerli) hat von Anfang an Mitleid mit Elvira, begreift, dass ihre naive Schwester ein Opfer der Umstände ist. Auch als Zuschauer*in solidarisiert man sich mit Elvira, spürt ihren Schmerz, ihre Angst und ihre Verzweiflung, die einem viel näher sind, als die vermeintliche Perfektion Aschenputtels es je war. Es geht unter die Haut, wenn sie sich voll abgrundtiefem Selbsthass im Spiegel betrachtet, Hass, der ihr von außen eingetrichtert wurde.

Doch leider befreit Alma ihre Schwester erst nach etlichen Selbstverstümmelungen – inklusive der berüchtigten Schuhszene – aus ihrem Wahn. Rucke di gu, rucke di gu, Blut ist im Schuh! Spätestens dann fragt man sich, ob man seinen Kindern eigentlich heutzutage wirklich noch den brutal-sexistischen Märchenklassiker der Gebrüder Grimm, in dem die Stiefschwestern ihre Füße verstümmeln, vorlesen sollte.

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Blichfeldts perfekt ausgestatteter Film, oft im natürlichen Licht gefilmt, wirkt zuweilen wie ein lebendig gewordenes Ölgemälde – Kameramann Marcel Zyskind hat großartige Arbeit geleistet. Immer wieder bricht Blichfeldt das historische Setting mit anachronistischer Synthesizer-Musik, das erinnert an Francis Ford Coppolas »Marie Antoinette« oder Frauke Finsterwalders »Sisi & Ich«.

Subtil spielt sie auch auf Václav Vorlíčeks »Drei Haselnüsse für Aschenbrödel« an. Vermutlich wird sich Blichfeldts Body-Horror-Märchen jedoch nicht als ewiger Weihnachtsklassiker etablieren, besonders nach dem Gänsebraten sei dringend vom Ansehen abgeraten. Doch als zeitgemäße Horrorparabel kann man den Film (nicht) nur jeder selbstbildgestörten Teenager*in empfehlen.

»The Ugly Stepsister«: Norwegen 2025. Regie und Buch: Emilie Blichfeldt. Mit: Lea Myren, Thea Sofie Loch Næss, Ane Dahl Torp, Isac Calmroth, Flo Fagerli. 109 Min. Kinostart: 5. Juni

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