Agentenleben: Aus Liebe – und auch für Bares

Jürgen Tatzkow berichtet über seinen Vater, einen Doppelagenten

  • Bettina Richter
  • Lesedauer: 4 Min.
Der Sohn des Doppelagenten: Jürgen Tatzkow
Der Sohn des Doppelagenten: Jürgen Tatzkow

Zehn Jahre spionierte Horst Tatzkow für die CIA, ehe er 1968 aufflog und zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, seine Frau bekam acht Jahre. Die Enttarnung hatte er sich selbst zuzuschreiben: Er warf dem freundlichen Mann von der Post, der morgens um 6.50 Uhr gerade den Briefkasten Nr. 33 in der Greifenhagener Straße in Berlin leerte, seinen Brief in den Postsack. Allerdings war der Mann von der Post ein Mann vom MfS, nämlich der operative Mitarbeiter der für die Postkontrolle zuständigen Abteilung M namens Jürgen Raasch. Die Abteilung M hatte bereits 13 Schreiben an Deckadressen im Westen abgefangen und suchte seit Wochen nach dem Absender. Raasch kannte das Schriftbild auf den Kuverts. Und erkannte es nun auf dem eingeworfenen Brief wieder. Das war’s.

Tage später und wenige Meter weiter, vorm Haus in der Wisbyer Straße 66, verabschiedeten Käte Tatzkow und deren Sohn Jürgen ihre Thüringer Verwandten. Eine Stunde nach der Aufnahme des Familienfotos klingelte der Staatsanwalt mit Gefolge, sie wiesen den Durchsuchungsbeschluss vor und nahmen die Mutter mit. Der 15-jährige Sohn beobachtete überrascht, wie ein Empfänger, getarnt als Batterie, Tinte, Papiere und andere geheimdienstliche Unterlagen in der elterlichen Wohnung gefunden und beschlagnahmt wurden. Plötzlich waren er und sein zwei Jahre älterer Bruder Erich ohne Eltern …

Jürgen Tatzkow wurde in den 80er Jahren Lehrer, auch Schuldirektor in Köpenick, in den 90er Jahren sogar verbeamtet, heute ist er Pensionär. Bereits vor zwei Dezennien führte er Interviews mit seinem 1996 verstorbenen Vater und recherchierte in Archiven dessen Geheimdiensttätigkeit. Von der Stasi-Unterlagenbehörde bekam er nur die Hälfte der dort einliegenden Papiere, von der CIA kein Blatt, und auch andere westliche Dienste zeigten ihm bei seinem Ansinnen die kalte Schulter. Er wollte wissen, wann und warum sein Vater zunächst für die CIA, dann als IM »Kowalowsky« für das MfS und nach der Wende vermutlich erneut für den US-Nachrichtendienst gearbeitet hatte. Es muss Liebe gewesen sein. Sein Freund, der ihn der CIA zuführte, war – so vermuteten Vater wie Sohn – von der DDR-Aufklärung in den Westen geschickt und dort wohl umgedreht worden.

Die aus verschiedenen Quellen mit Belegen gestützte Agentengeschichte ist überzeugend, aber lückenhaft nicht nur wegen fehlender Zeugnisse – auch Tatzkows Vater erzählte ihm nicht die ganze Wahrheit, wie der Autor bei Recherchen feststellen musste. Aber es gibt eine zweite Ebene, und die finde ich fast noch spannender als dieses mitunter undurchsichtige Geheimdienstgedöns. Jürgen Tatzkow erzählt, wie die beiden Brüder sich als temporäre Waisen allein durchschlugen, weil das MfS es verhinderte, dass sie ins Heim mussten. Wir lesen, wie sie auf unterschiedliche Weise Unterstützung erfuhren und sich selbstbewusst entwickelten. Die beiden wurden weder geächtet noch aus der Gesellschaft verstoßen, absolvierten ihre Lehre im Werk für Fernsehelektronik, waren dort aktiv in der FDJ-Singegruppe. Jürgen Tatzkow erwarb nach der NVA die Hochschulreife an der Abendschule und studiert an der Humboldt-Universität. Nur als er die Tochter eines sehr bekannten DDR-Historikers heiraten wollte, schien die Vergangenheit seiner Eltern ihm erstmals auf die Füße zu fallen. Der Professor war ein gebranntes Kind: Er wurde gemaßregelt, weil seine andere Tochter 1968 gegen die militärische Intervention der Verbündeten in Prag protestiert hatte. Das wollte er nicht noch einmal erleben. Nun ja, das renkte sich ein, Tatzkow ist noch immer mit dieser Frau, einer Historikerin, verheiratet.

Die Lebensgeschichten, die in diesem Buch ausgebreitet werden, sind zwar einzigartig, aber doch irgendwie typisch DDR. Natürlich ist es die bizarre Geschichte eines Doppelagenten, der aber eigentlich keiner war, denn er arbeitete nicht gleichzeitig, sondern nacheinander für die Nachrichtendienste beider Seiten. Im Interview bekannte er seinem Sohn: »Für diesen Job war ich nicht gut geeignet.« Aber er hat ihn gemacht. Aus Liebe und auch für Bares, weniger aus Überzeugung. Der von ihm angerichtete Schaden hielt sich in Grenzen: Er lieferte Persönlichkeitsprofile, berichtete über Stimmungen in der Gesellschaft und in seiner Partei, der SED. Quellen wie Tatzkow – und davon gab es in der DDR mehr, als deren Sicherheitsorgane wussten – lieferten die Informationen, mit denen sich die westlichen Nachrichtendienste ein präzises Bild vom Zustand der DDR-Gesellschaft machten und daraus Schlüsse für die Politik ableiteten. Selbst wenn ihnen Dilettanten Futter lieferten: Daraus machten sie scharfe Munition im Klassenkampf.

Jürgen Tatzkows Buch aktiviert Einsichten, die inzwischen verschüttet scheinen. Obgleich Lehrer, tut er dies nicht mit erhobenem Zeigefinger, wohl aber auf einprägsame, überzeugende Weise.

Jürgen Tatzkow: Mein Vater, der Spion. Im Auftrag von CIA und MfS. Edition Ost, 256 S., br., 20 €.

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