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Graphic Novel »Schweigen«: Gegen das Verstummen
In der Graphic Novel »Schweigen« erzählt Birgit Weyhe vom Kampf zweier Frauen gegen Gewalt und Diktatur in Deutschland und Argentinien
Warum heißt diese Graphic Novel »Schweigen«? Im ersten Kapitel erklärt Birgit Weyhe: »In diesem Buch geht es um zwei Frauen, die auf unterschiedliche Weise vom Schweigen betroffen waren, dem privaten Verstummen und dem politischen Vertuschen.«
Damit erzählt sie zwei Geschichten. Zum einen, wie Ellen Marx als 17-jährige deutsche Jüdin im Frühjahr 1939 ohne Eltern nach Buenos Aires emigriert. Ihre gesamte Familie wird von den Nazis in der Shoah umgebracht. Fast 40 Jahre später, im März 1977, »verschwindet« ihre erwachsene Tochter Nora. Die argentinische Militärjunta bekämpft die linke Opposition mit Terror und willkürlichen Verhaftungen. Mit dem Verschleppen und Verschwindenlassen wird die Gewalt noch verstärkt, Angehörige und Genoss*innen werden durch Ungewissheit terrorisiert. Für Ellen Marx beginnt eine lebenslange Suche, sie wird zu einer der berühmten »Mütter des Plaza de Mayo«, die sich trotz Verbot und Repression öffentlich auf dem zentralen Platz versammeln, um nach ihren verschwundenen Kindern zu fragen.
Die zweite Lebenslinie in »Schweigen« ist die von Elisabeth Käsemann: 1947 in Gelsenkirchen geboren, hatte sie sich um 1968 während ihres Studiums in Westberlin politisiert und war Mitglied im Sozialistischen Deutschen Studentenbund. Die 68er forderten ein Ende des Schweigens über die Verbrechen der Nazizeit und protestierten gegen den Vietnamkrieg. Ab 1970 lebt Elisabeth Käsemann in Buenos Aires und beteiligt sich an der Selbstorganisation in Armenvierteln der Stadt, wie auch Nora Marx. In einem langen, in der Graphic Novel mehrere Seiten umfassenden Gespräch erklärt Nora ihrer Mutter Ellen, worum es dabei geht: um die Organisation von praktischer Selbsthilfe und Solidarität, aber auch um Agitation für eine gerechtere Gesellschaftsordnung.
Birgit Weyhe zitiert hierzu Plakate, Werbeanzeigen, historisch bekannte Fotos und variiert ikonisch gewordene Symbole. Ihre von klaren Linien geprägten Zeichnungen korrespondieren mit der fein geletterten Schrift.
Wie Nora Marx wird auch Elisabeth Käsemann im März 1977 verhaftet. In »Schweigen« ist zu sehen, wie ihre britische Freundin Diana vergeblich auf sie wartet. Dann wird auch sie verhaftet, in das Folterlager El Vesubio verschleppt und gefoltert. Aber Diana überlebt, da die britische Botschaft sich entschieden für ihre Freilassung einsetzt. Das Auswärtige Amt aber, das Elisabeths Eltern um Hilfe bitten, schweigt. Diana berichtet später, wie sie die Schreie ihrer Freundin Elisabeth in einer Nachbarzelle mitanhören musste und wie es nach verbranntem Fleisch roch, wenn die Gefangenen mit Strom gefoltert wurden.
Weyhe zitiert aus einem »Länderbericht« des Auswärtigen Amts aus dem Jahr 1977: »Die eigentlichen Probleme Argentiniens liegen im innenpolitischen Bereich, im Kampf gegen Subversion und politischen Extremismus. Die Bekämpfung hat Priorität. Seit Beginn der Militärregierung wurden großen Fortschritte erzielt.« Priorität haben die wirtschaftlichen Interessen und auch die bevorstehende Fußball-WM 1978 soll reibungslos ablaufen.
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Sorgfältig recherchierte Hintergrundinformationen unterfüttern die Handlung. Dabei werden die klaren Zeichnungen aber nicht vom Text überlagert. Durch die Beschränkung auf eine reduzierte Farbpalette – Schwarz, je zwei Grün- und Rottöne, Gelb – wirken sie klar konturiert. Es geht nicht um Spektakel, es geht um das Leben. Und den Tod. In dem Kapitel, in dem Elisabeth Käsemanns Ermordung geschildert wird, sind die Seiten schwarz statt weiß. Darauf gezeichnet mit brüchigen Linien in weiß: Gegenstände aus dem Gefängnis. Und als Text der nüchterne Bericht der Elisabeth-Käsemann-Stiftung über die Hinrichtung einer Gruppe Gefangener am 24. Mai 1977, unter ihnen Elisabeth Käsemann.
Auch in anderen Kapiteln gibt es Seiten, auf denen die Darstellung von konkreter Gewalt in Abstraktion übergeht. Oder Seiten, die fast schwarz zugekrakelt sind. »Für die gekritzelten Flächen habe ich mehrere Zeichenfedern und Pinsel kaputt gemacht, weil ich tatsächlich mit unglaublichem Druck und Gewalt an den Zeichenwerkzeugen gearbeitet habe«, erklärt Weyhe. »Die gezeichneten Menschen treffen hier auf gewaltvolle Abstraktion von Gewalt.«
»Schweigen« ist der umfangreichste von Weyhes bislang elf Comicbänden. Vier Jahre hat sie an ihm gearbeitet. Er ist eine Anklage gegen die Politik des Schweigens und ein wichtiger Beitrag zur Erinnerungskultur, in Form und Inhalt.
Birgit Weyhe: Schweigen. Avant-Verlag, 368 S., geb., 39€.
Buchvorstellung: 4.6. in der »Cantina fux & ganz«, Bodenstedtstr. 16, Hamburg-Altona, Beginn 19:30 Uhr
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