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Krieg in Gaza: Die EU muss handeln
Cyrus Salimi-Asl zum geleakten EU-Bericht über den Gaza-Krieg
Seit ein paar Wochen überprüfen die Europäische Kommission und der Auswärtige Dienst der EU das im Juni 2000 in Kraft getretene Assoziierungsabkommen mit Israel. Anlass ist die rücksichtslose israelische Kriegsführung im Gazastreifen, die bereits über 54 000 Menschen das Leben gekostet hat. Vor allem die Blockade bzw. Behinderung der Hilfslieferungen, die für viele den Hungertod bedeuten könnte, hat in Brüssel und den europäischen Hauptstädten für Empörung gesorgt.
Zur Überprüfung des Abkommens verweist Brüssel auf den Vertragsartikel 2. Demnach beruhten die Beziehungen zwischen den Vertragsparteien sowie alle Bestimmungen des Abkommens selbst »auf der Achtung der Menschenrechte und der demokratischen Grundsätze«. Im Raum steht die Aussetzung des Assoziierungsabkommens, das Israel vor allem Handelsvorteile in der Europäischen Union verschafft. Nach Angaben der unabhängigen Nachrichtenwebseite EUobserver ermögliche es dem Land, »jährlich Waffen, Wein, Kosmetika und andere Waren im Wert von rund 15 Milliarden Euro zu Vorzugskonditionen nach Europa zu verkaufen«.
Bericht seit November 2024 unter Verschluss
Nun ist ein bisher unter Verschluss gehaltener Bericht aufgetaucht oder besser geleakt worden, der im Auftrag des damaligen EU-Außenbeauftragten Josep Borrell bereits im November 2024 erstellt worden ist. Verfasst hat ihn eine Menschenrechtsgruppe im Auswärtigen Dienst der Europäischen Union, mit dem Auftrag, mutmaßliche Kriegsverbrechen Israels zu untersuchen. Das Papier galt als streng geheim – nur einzelne Zitate wurden veröffentlicht – und hat es in sich: Dokumentiert werden die »beispiellose hohe Anzahl von Opfern unter humanitären Helfern in Gaza«. Außerdem deute »der massenhafte Verlust an Menschen, das Ausmaß der Zerstörung und der enorme Mangel an lebenswichtigen Gütern und Dienstleistungen« auf schwerste Verbrechen nach dem Statut des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) hin. Auch das »Aushungern von Zivilisten als Methode der Kriegsführung« wird als mögliches israelisches Kriegsverbrechen benannt.
Das Brisante daran ist, dass die EU-Führungsebene offensichtlich schon im vergangenen Jahr Bauchschmerzen entwickelt hatte mit der israelischen Politik im Gazastreifen, Belege für Kriegsverbrechen gesammelt und mögliche Konsequenzen geprüft, dann aber nicht gehandelt hat. Die Überprüfung des Abkommens wurde erst gut ein halbes Jahr später in Angriff genommen. Warum?
Europäische Politiker fassen Mut
Ein Grund ist sicher der Wechsel an der Spitze der EU-Außenbeziehungen: Der tendenziell israelkritischere Spanier Borrell ist in der Zwischenzeit als Außenbeauftragter von der estnischen Politikerin Kaja Kallas abgelöst worden, die als überzeugte Transatlantikerin einen eher akritischen Umgang mit Israel pflegt.
Selbst die sonst gegenüber Israel eher wenig kritikfreudig auftretende EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ist mittlerweile mutiger in ihren Äußerungen: Die Eskalation und der unverhältnismäßige Einsatz von Gewalt gegen Zivilisten im Gazastreifen seien unter humanitärem und internationalem Recht nicht zu rechtfertigen, ließ von der Leyen in Brüssel mitteilen. Die Ausweitung der israelischen Militäreinsätze im Gazastreifen, bei denen zivile Infrastrukturen ins Visier genommen würden, sei abscheulich.
EU schweigt über schwerste Verbrechen
Die klaren Worte und die Verurteilung israelischer Kriegshandlungen als unvereinbar mit dem Völkerrecht seitens europäischer Spitzenpolitiker kommen spät, viel zu spät. Die Kritik bekommt noch eine ganz andere Bedeutung, wenn man weiß, dass der geleakte Bericht bereits alle Belege für die völkerrechtswidrige Kriegsführung der israelischen Armee enthielt – vor einem halben Jahr. Offensichtlich wurde intern entschieden, die Erkenntnisse erst einmal für sich zu behalten. Das grenzt an Komplizenschaft mit mutmaßlichen Kriegsverbrechern.
Ein Krieg, dem namhafte Wissenschaftler, Juristen und Menschenrechtsorganisationen genozidale Züge zuschreiben, kann selbst die EU nicht mehr guten Gewissens verteidigen. Möglich und nötig sind nun spürbare Konsequenzen, sollte Israels Regierung ihren Kurs nicht ändern.
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