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- EU-Plattformrichtlinie
Plattformarbeit in Berlin: Per App in die Ausbeutung
Um gegen prekäre Beschäftigung in der Plattformökonomie vorgehen zu können, wartet Berlin auf ein Bundesgesetz
Als Ende Januar 700 Beschäftigte des Lieferdienstes Uber Eats an zwei Tagen ihre Arbeit niederlegten, nahm die Öffentlichkeit davon kaum Notiz. Zu dem kleinen Wilden Streik hatten sich die Fahrer*innen in verschiedenen Messenger-Gruppen verabredet. Der Protest war eine Reaktion darauf, dass das Unternehmen die Bezahlung pro Bestellung abgesenkt hatte. Es kursierten Videos, wie einige der Kuriere versuchten, ihre Kolleg*innen von der Arbeit abzuhalten.
Zwar verzögerte die Arbeitsniederlegung den Betriebsablauf und die weiteren Auslieferungen, der niedrigere Stundensatz konnte aber nicht abgewehrt werden. Stattdessen sahen sich viele Fahrer*innen mit Verdienstausfällen konfrontiert. Einige mussten sich auch mit Kündigungen auseinandersetzen. Ausführlich berichtete die sozialistische Gewerkschaftszeitung »express«.
Der ungewöhnliche informelle Arbeitskampf dürfte durch die ebenso informellen Arbeitsverhältnisse bei dem Lieferdienst mit den grünen Rucksäcken begünstigt worden sein. Denn durch die hochgradig informellen Beschäftigungsmodelle greifen viele Regulierungen, die das deutsche Arbeitsrecht vorsieht, nicht für Uber Eats. Denn ähnlich wie der Konkurrent Wolt setzt Uber Eats seit geraumer Zeit auf den Einsatz von sogenannten Flottenpartnern.
Diese Subunternehmen beauftragen ihre Beschäftigten zum Teil als Selbstständige. Die Mutterunternehmen entledigen sich so des Unterhalts, der Bezahlung und der Rekrutierung der Arbeitskräfte. Immer wieder tritt der Verdacht der Scheinselbstständigkeit auf. Demnach seien Fahrer*innen als Selbstständige beschäftigt, de facto aber aufgrund der Weisungsstrukturen in den Betrieb eingegliedert und müssten deshalb eigentlich als Arbeitnehmer*innen sozialversicherungspflichtig angestellt werden.
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In Berlin sind die Lieferdienste Uber Eats und Wolt nicht die einzigen Unternehmen, deren genaue Arbeitsorganisation im Verborgenen bleibt. Hinzu kommen etwa Fahrdienstleister, Reinigungsfirmen, Pflegedienste und klassische Clickwork-Anbieter, bei denen die Beschäftigten kleinteilige Arbeiten wie Übersetzungen oder Bildbeschreibungen am Computer erledigen. Sie alle eint neben der Frage nach dem Status ihrer Beschäftigten, dass sie ihrer Arbeitsaufträge über eine digitale Plattform vergeben.
Vor allem mit Blick auf die hohe Quote an Scheinselbstständigen hat die Europäische Union die Richtlinie zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Plattformarbeit verabschiedet. Die EU vermutet, dass von den 28 Millionen Menschen, die 2021 in der Plattformwirtschaft beschäftigt waren, 5,5 Millionen scheinselbstständig waren. In diesem Jahr könnte den Schätzungen zufolge die Gesamtzahl auf 43 Millionen anwachsen. Bis Ende 2026 müssen die Mitgliedstaaten ihre Gesetzeslage so anpassen, dass die Vorgaben aus der Richtlinie erfüllt werden.
Im Wesentlichen fällt der Umsetzungsauftrag der Richtlinie in die Hände des Bundes. Ein Kernelement der Richtlinie ist die Bestimmung eines Plattformarbeitsverhältnisses als ein grundsätzlich abhängiges, sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis, sofern es bestimmte von den Mitgliedstaaten festzulegende Kriterien erfüllt. In der Folge müssen die Unternehmen im Zweifel beweisen, dass es sich tatsächlich um ein selbstständiges Arbeitsverhältnis handelt – eine Umkehr des Status quo.
Trotz der maßgeblichen Gesetzeskompetenz des Bundes verspürt man in Anbetracht des so oft beschriebenen Arbeitsunrechts in diesem Teil des Arbeitsmarktes auch im Berliner Abgeordnetenhaus offenbar einen gewissen Handlungsdruck. Jedenfalls hatten sich die Abgeordneten des Arbeitsausschusses dafür den Donnerstag die Themen »Gute Arbeit in der Plattform-Ökonomie« und die Umsetzung der Richtlinie auf die Tagesordnung gesetzt und dazu Expert*innen eingeladen.
Die Auseinandersetzung erschöpfte sich jedoch im Wesentlichen in einer neuaufgelegten Skizze der prekären Bedingungen in diesem Arbeitsmarktsegment. Wobei der von der CDU eingeladenen Vertreterin von Lieferando Anna Dietrich die Rolle zukam, ihr Unternehmen als das weniger schlechte darzustellen. Nach Dietrichs Aussage haben die Kuriere von Lieferando zu 99 Prozent feste Verträge. Insofern war die Einladung von Lieferando eigentlich eher unpassend. Es sei denn, man glaubt den Erzählungen von Beschäftigten und Betriebsräten, wonach auch Lieferando den Einsatz von Subunternehmen ausbauen will.
80 Prozent der über Lieferando vermittelten Lieferungen werden indes nicht von Lieferando-Fahrer*innen zugestellt. Hier stellt Lieferando nur die App als Vermittlungsplattform zur Verfügung. Während die eigene Logistikflotte seit jeher Millionen von Investorengeld verschlingt, ist die Vermittlungsplattform für das Unternehmen profitabel. Dietrichs sieht die als Partner bezeichneten Restaurants, an die Lieferando vermittelt und die das Ausliefern von Bestellungen mit eigenen Fahrer*innen organisieren, nicht als Subunternehmen an. Sie verstehe Lieferando als Marktplatz ohne Verantwortung für die Arbeitsbedingungen bei ihren Partnern, sagte Dietrich. Deren Kontrolle läge bei der Finanzkontrolle Schwarzarbeit des Zolls.
Mit Blick auf die Regulierung der Plattformarbeit kann Berlin im Wesentlichen nur auf das kommende Gesetz warten. Der Referentenentwurf des Bundes soll Senatorin Cansel Kiziltepe (SPD) zufolge im Herbst kommen. »Er könnte besser sein«, erklärte Kiziltepe. Sie wies darauf hin, dass mit der Verabschiedung eines entsprechenden Gesetzes das Land Berlin sein Personal aufstocken müsste. Schließlich müsste die Einhaltung der Richtlinie kontrolliert werden.
Viele der kritisierten Merkmale der Arbeitsbedingungen sind jedoch nicht auf die Plattformwirtschaft begrenzt. Vorenthaltene Löhne, Torpedierung von Mitbestimmung, Unterschreiten des Mindestlohns durch unbezahlte Überstunden oder nicht gewährter Urlaub machen auch vor dem regulären Arbeitsmarkt nicht halt. Und mit Umsetzung der EU-Richtlinie werden diese Phänomene auch aus der Plattformwirtschaft nicht verschwinden.
Abhilfe könnten hier Tarifverträge schaffen. Einen Vorschlag, den Anna Dietrich von Lieferando – immerhin eine erklärte Befürworterin von Betriebsräten – ablehnte. In Österreich, wo Lieferando mittlerweile komplett auf das Subunternehmermodell umgestiegen ist, hätten die Tarifverträge zu Wettbewerbsnachteilen geführt. Die Konkurrent*innen hätten weiter auf prekäre Beschäftigung gesetzt, die Arbeitsbedingungen in der Branche hätten sich anders als gehofft nicht flächendeckend verbessert. Ein Argument, das Johannes Specht von der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung nicht gelten ließ – in Deutschland kann das Bundesarbeitsministerium auf Antrag von Arbeitgeber- und Arbeitnehmer*innen Tarifverträge für allgemeinverbindlich erklären und so Mindeststandards für eine ganze Branche setzen.
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