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Das Gefängnis als faschistisches Labor
Die Faschismusanalyse der schwarzen radikalen Theorie. Auszug (Teil 2) aus Alberto Toscanos Buch »Spätfaschismus«
Der Theoretiker Alberto Toscano veröffentlichte mit »Late Fascism« 2023 eines der meistdiskutierten Bücher der nordamerikanischen Linken. Am 24. Juni diskutieren Toscano und Vanessa E. Thompson im nd.Salon über das Buch und die Frage, was Liberalismus, Kolonialismus, Gefängnisse und Faschismus miteinander zu tun haben.
Im hier abgedruckten Auszug rekonstruiert Alberto Toscano den Ansatz der radikalen schwarzen Theoretiker*innen Angela Davis und George Jackson. (Link zu Teil 1 des Auszugs).
Wie Angela Davis betont auch (der 1971 von der Polizei im Gefängnis erschossene Sozialrevolutionär, Anm.d.Übs.) George Jackson die Notwendigkeit, den Faschismus nicht als statische Form, sondern als Prozess zu begreifen, der von seinen politischen und wirtschaftlichen Kontexten geprägt ist. Deshalb sei die Aussagekraft von Modellen, Analogien oder Idealtypen begrenzt.
Jackson beschreibt, wie sich der Faschismus historisch »aus von Nation zu Nation unterschiedlichen Stadien des traditionellen kapitalistischen Zerfalls entwickelte«. Obgleich der Faschismus für den Autor von Soledad Brother eng mit der Umstrukturierung des kapitalistischen Staates verbunden ist, stellt er zugleich auch eine konterrevolutionäre Form dar, was sich in der Gewalt äußert, mit der er jeder substanziellen Bedrohung der Integrität des Staats des Kapitals begegnet. Nichtsdestotrotz ist aufschlussreich, dass der Faschismus für Jackson – ähnlich wie in Nicos Poulantzas’ Analyse in Faschismus und Diktatur – nicht direkt auf eine aufstrebende revolutionäre Kraft reagiert; er ist eher eine Art verspätete Konterrevolution, die von der Schwäche oder Niederlage der antikapitalistischen Linken profitiert.
Die »Gegenbewegung zu einer schwachen sozialistischen Revolution« ist in diesem Sinne ein gemeinsames Merkmal verschiedener Formen von Faschismus (Jacksons historische Anspielung lässt sich auch als Kritik an der heutigen Linken lesen). Kurzum: »Der Faschismus muss als episodisch notwendiges Stadium der sozioökonomischen Entwicklung des Kapitalismus während einer Krise betrachtet werden. Er ist Ergebnis eines schwachen und fehlgeschlagenen revolutionären Impulses – eines Bewusstseins, das einen Kompromiss (mit den bestehenden Machtverhältnissen, Anm.d.Übs.) eingegangen ist.«
Davis’ Analysen präsentieren uns das Gefängnis als rassifizierte Enklave und als Laboratorium faschistischer Strategien der Gegenrevolution.
Aus US-amerikanischer Sicht ist dieser Kompromiss notwendigerweise mit der Rassifizierung der Klasse verschränkt, wie sie die amerikanische Geschichte seit der weiß-suprematistischen Konterrevolution gegen die Black Reconstruction (die Gegenbewegung der Plantagenbesitzer gegen die Befreiung der Versklavten ab 1865, Anm.d.Übs.) oder sogar bereits seit Bacons Rebellion (dem Aufstand des Plantagenbesitzers Nathaniel Bacon 1676, Anm.d.Übs.) und der damit einhergehenden »Erfindung der weißen Rasse« prägt. In den Worten Jacksons: »Marx’ Definition der Geschichte als ein gebrochenes, verschlungenes, elendes Spektrum von Klassenkämpfen wird durch die amerikanische Geschichte der Arbeiterklasse untermauert.«
Für Jackson hat der Faschismus in den USA so etwas wie eine vollendete Form erlangt, die nicht zuletzt aufgrund der engen Verbindung zwischen Monopolkapital und den (rassifizierten) Insignien der liberalen Demokratie hegemonial werden konnte. Er erläutert: »Der Faschismus hat sich in diesem Land auf höchst unauffällige und effiziente Weise etabliert. Er fühlt sich so sicher, dass die Herrschenden uns den Luxus zaghaften Protests erlauben. Geht der Protest aber zu weit, zeigen sie ihr anderes Gesicht. Türen werden nachts eingetreten und Maschinengewehrfeuer und Schrotkugeln fungieren als Kommunikationsmittel.«
Ungeachtet der Wandlungsfähigkeit des Faschismus behauptete Jackson, dass die (ökonomische) Reform als »Arbeitsdefinition faschistischer Motivation« verstanden werden könne und dies im Kontext des US-Monopolkapitals besonders gelte. In der parallel dazu entwickelten Analyse von Angela Davis wird der karzerale, radikal-emanzipatorische Faschismusbegriff sowohl präzisiert als auch modifiziert. Für Davis nahm der amerikanische Faschismus in den frühen 1970er-Jahren eine Form an, die sich am ehesten als präventiv und embryonal beschreiben lasse.
Davis übernahm und adaptierte diese Terminologie von ihrem früheren Lehrer Herbert Marcuse, der 1970 in einem Interview mit Hans Magnus Enzensberger vorgeschlagen hatte, die gemeinhin akzeptierte politische Sequenz umzudrehen, wonach der Faschismus hinsichtlich sowohl seiner gesellschaftlichen Inhalte als auch seiner temporalen Form als reaktiv betrachtet werden müsse – entweder als unmittelbare Antwort auf einen potenziell siegreichen revolutionären Aufstand oder, vermittelt, auf bereits besiegte oder abklingende antikapitalistische Kämpfe. Es sei nicht die Reaktion, sondern die Antizipation, die den Faschismus in neuer Gestalt zum Leben erwecke.
Marcuse zu Enzensberger: »Ich glaube, dass es so etwas wie einen präventiven Faschismus gibt. Wir haben in den letzten zehn bis zwanzig Jahren eine präventive Gegenrevolution erlebt, zur Abwehr einer Revolution, die gefürchtet wird, die aber gar nicht stattgefunden hat und die auch im Augenblick nicht auf der Tagesordnung steht. Auf dieselbe Weise entsteht auch der präventive Faschismus.«
Die Frage nach der möglichen Durchsetzung des Faschismus in den USA, die in den 1970er und 1980er Jahren in den Befreiungsbewegungen und der radikalen Linken breit diskutiert wurde, ist für Marcuse eng mit den konkreten Formen der »präventiven Gegenrevolution« und mit den spezifischen Modalitäten »präventiver Gegengewalt« verschränkt. Die Besonderheit dieser antizipatorischen Logik hat auch viel mit den Unterschieden zwischen dem »aufkeimenden Faschismus« und dessen Vorläufern während der europäischen Zwischenkriegszeit zu tun.
»Wie würde sich unser Verständnis der Vereinigten Staaten verändern, wenn wir den Faschismus als Wiederherstellung liberaler Vorherrschaft und als Ausweg aus der Krise und eben nicht als Krisensymptom oder als Kollaps von ›Demokratie‹ und ›Zivilgesellschaft‹ begreifen?«
Dylan Rodriguez
Marcuse überlegt: »Die Frage ist, ob der Faschismus in den Vereinigten Staaten die Oberhand gewinnt. Wenn wir darunter die schrittweise oder rasche Abschaffung der Überbleibsel des Verfassungsstaates, die Organisation paramilitärischer Truppen wie der Minutemen und die Einräumung außerordentlicher Rechtsbefugnisse für die Polizei wie das berüchtigte no-knock-Gesetz verstehen, das die Unverletzlichkeit der Wohnung aufhebt; wenn man auf Gerichtsentscheidungen der letzten Jahre blickt; wenn man weiß, dass in den USA Spezialeinheiten – sogenannte Aufstandsbekämpfungskorps – für einen möglichen Bürgerkrieg trainiert werden; wenn man die fast unmittelbare Zensur von Presse, Fernsehen und Rundfunk betrachtet: dann kann man meines Erachtens mit Fug und Recht von einem aufkeimenden Faschismus sprechen […]. Der amerikanische Faschismus wird wahrscheinlich der erste sein, der mit demokratischen Mitteln und demokratischer Unterstützung an die Macht kommt.«
Faschismus beschreibt hier ein Set repressiver Techniken sowie einen umfassenden politischen und ideologischen Prozess, der sich auf differenzierte Weise gegen rassifizierte und subalterne Bevölkerungsgruppen richtet, deren bloße Existenz und Sozialität als Bedrohung erachtet werden – angefangen mit der durchlässigen Grenze zwischen ›Kriminellen‹ und ›politischen Gefangenen‹. Es handelt sich um einen Prozess, in dem – um Jacksons Begriff des US-amerikanischen »Unterdrückungskontrakts« aufzugreifen – »die Akkumulation der Verachtung [für die Unterdrückten] grundlegende Überlebenstechnik ist«. Davis entwickelt die These Marcuses, wonach »Faschismus die präventive Gegenrevolution zur sozialistischen Transformation der Gesellschaft ist«, indem sie diesen Prozess aus dem Blickwinkel der gelebten Erfahrung rassifizierter Bevölkerungsgruppen in den USA analysiert. Für den Staat stellten nicht der von Jackson propagierte bewaffnete Kampf, sondern die »Überlebensprogramme«, die Enklaven autonomer sozialer Reproduktion, wie sie von den Black Panthers und anderen militanten Gruppen praktiziert wurden, das bedrohlichste Element schwarzer revolutionärer Politik dar. Ganz allgemein lassen sich aus Davis’ Analyse auch die unterschiedliche Sichtbarkeit und Erfahrung von Faschismus und Demokratie verstehen. In dieser Hinsicht erlaubt sie uns zu verstehen, wie auch race und Geschlecht, neben der Klasse, die Modalität determinieren, in der Faschismus erlebt wird.
Es gibt eine Art Alltagsfaschismus, der die Beziehung zwischen People of Colour und dem Staat prägt und der, obgleich er als repressive Infrastruktur der in der Tradition weißer Vorherrschaft stehenden liberalen Demokratie agiert, die Möglichkeit oder Tendenz anzeigt, den aufkeimenden oder präventiven Faschismus auf die Gesamtbevölkerung auszuweiten. Wie Davis in den frühen 1970er Jahren warnt, sei der Faschismus zwar »heute in erster Linie auf den Einsatz des Strafverfolgungs-, Justiz- und Strafvollzugsapparats gegen offene und latente revolutionäre Entwicklungen in der national unterdrückten Bevölkerung beschränkt«, könne aber »schon morgen die Arbeiterklasse als ganze und möglicherweise auch gemäßigte Demokraten angreifen.«
Doch letztere würden das Phänomen leider vermutlich nicht vollständig erfassen – zum einen, weil der Schauplatz, das Gefängnis, mit seinen »totalitären Bestrebungen« unsichtbar gemacht wird, zum anderen wegen der Zeitlichkeit des Phänomens, also der verzögerten Entfaltung. Die von Davis diagnostizierte Form von Faschismus ist ein »langwieriger sozialer Prozess«, dessen »Wachstum und Entwicklung von Natur aus krebsartig sind«. Davis’ Analysen präsentieren uns das Gefängnis als rassifizierte Enklave und als Laboratorium faschistischer Strategien und Taktiken der Gegenrevolution, die ihrerseits als molekularer sozialer Prozess verstanden werden kann. Räumlich wie zeitlich wird die Wahrnehmung faschistischer Realitäten und Potenzialitäten von der Opazität ihrer sozialen und politischen Infrastruktur verdeckt.
Davis sollte später im Zusammenhang über ihre abolitionistische Praxis schreiben: »Der gefährliche und faschistische Trend einer zunehmenden und versteckten Inhaftierung von Bevölkerungsgruppen wird selbst unsichtbar gemacht. Das Einzige, was zählt, ist die Beseitigung des Verbrechens – und Verbrechen wird man los, indem man sich der Menschen entledigt, die dem rassistischen Alltagsverstand zufolge am wahrscheinlichsten für kriminelle Taten verantwortlich gemacht werden können.«
Der kalifornische Sozialwissenschaftler Dylan Rodriguez hat die Originalität, mit der Davis und Jackson das »Faschismusproblem« ausgehend von der politischen Gewalt der Gefängnisse her erörterten, eindrücklich zusammengefasst. Ungeachtet ihrer sich punktuell unterscheidenden Einschätzung, ob in den USA der Faschismus noch am Entstehen oder bereits vollendet sei, teilten sie »eine theoretische und symbolische politische Haltung, die einen erkenntnistheoretischen Bruch mit dem Alltagsverstand weißer Vorherrschaft und dem Regime der ihr zugrundeliegenden staatlichen Gewalt impliziert.« Diese Haltung hat eine doppelte Bedeutung. Auf der einen Seite erklärt sie die rassifizierende, karzerale und konterrevolutionäre Gewalt mit der politischen Ökonomie – nicht nur, indem sie den Nutzen offener Gewalt zur Reproduktion von Klassenverhältnissen aufzeigt, sondern auch, indem sie Fanons Erkenntnis weiterentwickelt, wonach wir Gewalt eher »als primäre und produktive (denn als rein repressive) Artikulation spezifischer Gesellschaftsformationen« verstehen sollten.
Auf der anderen Seite hat die Reformulierung des Faschismusproblems aus der Perspektive rassifizierter politischer Inhaftierung den bleibenden Vorteil, dass sie die oberflächliche, ideologisch begründete Gegenüberstellung von Faschismus und (liberaler) Demokratie unterläuft. Rodriguez fragt richtigerweise: »Wie würde sich unser politisches Verständnis der Vereinigten Staaten verändern oder kollabieren, wenn wir den Faschismus als Wiederherstellung liberaler Vorherrschaft und als Ausweg aus der Krise und eben nicht als Krisensymptom oder als Kollaps von ›Demokratie‹ und ›Zivilgesellschaft‹ begreifen?«
Alberto Toscano, 1977 geboren, ist Philosoph und lebt in Vancouver. Die deutsche Ausgabe von »Spätfaschismus« erschien 2025 im Unrast Verlag. (Übersetzung der Auszüge im »nd«: Raul Zelik)
Die Buchpräsentation im nd.Salon beginnt am 24. Juni um 19 Uhr am Franz-Mehring-Platz 1 und findet in englischer Sprache statt.
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