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Auch in Prozessen gegen Linke wird jetzt zwangsvermessen

Ein Thüringer Wissenschaftler will biometrische Körperscans zur Strafverfolgung etablieren

Dirk Labudde in seinem Labor an der Hochschule Mittweida. Der Professor forscht an neuen forensischen Methoden.
Dirk Labudde in seinem Labor an der Hochschule Mittweida. Der Professor forscht an neuen forensischen Methoden.

Es klingt wie Science-Fiction, ist aber inzwischen Realität auch in Prozessen gegen Linke: Im Frühjahr musste die im sogenannten Budapest-Komplex am Münchener Oberlandesgericht (OLG) beschuldigte Hanna S. eine biometrische Vermessung ihres Körpers erdulden. Mittels 3D-Körperscans sollte ein Abgleich ihrer Silhouette mit Videobildern aus Budapest ermöglicht werden.

In dem Prozess geht es um Ermittlungen zu Angriffen auf tatsächliche oder vermeintliche Neonazis vor über zwei Jahren in der ungarischen Hauptstadt. Auch in Strafermittlungen, die in dem Komplex Anfang Juli vor dem OLG Düsseldorf zur Anklage gegen sechs Personen führten, wurden diese Körperscans in mindestens einem Fall von der Staatsanwaltschaft beantragt und vom Gericht genehmigt. Verhandelt werden dort Taten in Budapest sowie in Deutschland – der sogenannte Antifa-Ost-Komplex.

Für die Erstellung der Gutachten hatten die ermittelnden Behörden Professor Dirk Labudde von der Hochschule Mittweida beauftragt. Der Forensiker hat die als »Photogrammetrie« bezeichnete Methode zur Erstellung von personenspezifischen, digitalen Skeletten weiterentwickelt. Allerdings funktioniert die Methode nur, wenn brauchbares Bild- und Videomaterial zum Abgleich zur Verfügung steht.

Hanna S. sollte für die Zwangsvermessung »in kurzer Sporthose oder Boxershorts und mit ärmellosem Top« erscheinen, berichtet die Münchener Soligruppe »Alle Antifa«. Wie demütigend die Methode verlief, schilderte die Angeklagte demnach vor Gericht: Im Gefängnis habe sie auf einen Besuch gewartet, als die Wärterin mitgeteilt habe, sie müsse »noch kurz zum medizinischen Dienst«. Dass es zur Vermessung gehen sollte, sei ihr nicht mitgeteilt worden.

Hanna S. wurde auf eine Liege gelegt und bis auf die Unterhose entkleidet, dann für weitere Bilder auf einen Drehteller gestellt.

In einem Raum mit zwei Wärterinnen und zwei vom Professor beauftragten Studentinnen sollen von Hanna S. zunächst Fotos mit ihrer Anstaltskleidung gemacht worden sein. Anschließend sei sie auf eine Liege gelegt und bis auf die Unterhose entkleidet worden, bevor die Mitarbeiterinnen Markierungen an ihrem Körper angebracht und sie für weitere Bilder auf einen Drehteller gestellt hätten. Vor Gericht nannte Yunus Ziyal, einer der beiden Rechtsanwälte von Hanna S., die Prozedur einen »tiefen Eingriff in ihre Privatsphäre«. Zudem seien Fotos ohne Oberbekleidung aufgenommen worden – die richterliche Anordnung deckte dies nicht.

Labudde nennt seine Methode »digitaler anthropometrischer Rig-Vergleich«: ein technisches Verfahren, bei dem aus Foto- oder Videomaterial von einem Tatort dreidimensionale Modelle der aufgenommen Personen erzeugt werden. Daraus werden »digitale Skelette«, sogenannte »Rigs«, extrahiert. Diese werden mit den Konturen der zu vermessenden Tatverdächtigen verglichen. Labudde formuliert am Ende eine Wahrscheinlichkeitsaussage über mögliche Übereinstimmungen.

Grundlage der Bewertung ist die Berechnung einer Duplikationswahrscheinlichkeit, also einer statistischen Annahme, wie oft eine bestimmte Körperkonfiguration in der Gesamtbevölkerung vorkommt. Für die Validierung seiner Methode stützt sich Labudde auf Datenmaterial von 340 Männern und Frauen in vier Körperhöhenklassen, die durch Anthropolog*innen manuell vermessen wurden. Dem folgte die Anfertigung von 3D-Bodyscans derselben Personen. Aus deren Vergleich hätten sich identische Werte ergeben, erklärt Labudde »nd«. Aus diesen hat der Wissenschaftler dann auf eine Gesamtheit geschätzt.

Entwickelt und wissenschaftlich vorangetrieben hat der Digitalforensiker die Methode am Forensic Science Investigation Lab der Hochschule Mittweida. Das Institut unter seiner Leitung berät Polizeibehörden, Staatsanwaltschaften und Gerichte in komplexen Kriminalfällen – in Deutschland etwa zur Beweisführung im Fall des Museumsraubes der riesigen Goldmünze »Big Maple Leaf« von 2017 oder eines Überfalls auf einen Geldtransporter zwei Jahre später. Im Kontext politischer Prozesse wurde die Methode auch im Fall von »Benni« angeordnet, der nach den »Tag X«-Protesten im Juni 2023 wegen des Vorwurfs des versuchten Mordes und 18-fach versuchter Körperverletzung ein halbes Jahr in Untersuchungshaft saß, weil er angeblich Brandsätze auf Polizist*innen geworfen habe.

Der Berliner »Big Maple Leaf-Prozess« war der deutschlandweit erste, bei dem Labudde die 3D-Körperscans als Sachverständiger gegen einen der Angeklagten eingebracht hat. Dessen damaliger Verteidiger Kai Kempgens nutzte die Gelegenheit, die Darstellung des Professors auseinanderzunehmen. Labudde war zu dem Ergebnis gekommen, dass eine der auf Video erkennbaren Personen dem Tatverdächtigen zugeordnet werden könne. Labudde musste aber einräumen, dass seine Analyse fehleranfällig ist. Am Ende wollte das Gericht das Gutachten nicht verwerten.

Anwalt Kempgens hält die Rig-Methode auch heute für kaum belastbar: Faktoren wie Bekleidung, individuelle Körperhaltung, Blickwinkel und Videoqualität machten die Verobjektivierung von indivudellen Körperproportionen unmöglich. Niemand wisse zudem, wie häufig bestimmte Kombinationen im Bevölkerungsdurchschnitt vorzufinden sind, sagt Kempgens »nd«. Auch sei etwa jeder Mensch morgens nach dem Aufstehen kleiner als am Abend – eine Abweichung, die auch Labudde zugibt.

»Körperscans sind kein Identifikationsverfahren, sondern ermöglichen allenfalls eine Zuordnung.«

Peer Stolle Verteidiger von Hanna S.

Kritik an der Methode hat auch Peer Stolle, einer der Verteidiger von Hanna S. Labuddes Untersuchungen der 340 Testpersonen ermöglichten keinen Rückschluss darauf, wie oft dieses Muster in der Bevölkerung auftritt. »Körperscans sind kein Identifikationsverfahren, sondern ermöglichen allenfalls eine Zuordnung: könnte das digitale Skelett in den Umriss einer Person passen oder nicht?«, sagt Stolle zu »nd«. Diese Einschätzung teilt auch Anwalt Kempgens.

Im Fall von Hanna S. blieb das Ergebnis des wissenschaftlichen Gutachtens letztlich ebenfalls zu vage, ein Nachweis ihrer Identität auf den Videos gelang Labudde nicht. Sein Ergebnis: Bei einer der abgebildeten Personen handele es sich »wahrscheinlich« um die Beschuldigte, es gebe aber »kleinste Differenzen«. Aus dem Tatvideo konnten auch nur drei Standbilder verwendet werden, bei allen anderen berührte die Person nicht mit beiden Füßen den Boden – eigentlich eine Voraussetzung für die Rig-Methode.

Nach eigenen Angaben war Labudde bislang in rund zwei Dutzend Verfahren als Sachverständiger tätig – auch außerhalb Deutschlands. Noch ist seine Methode aber nicht standardisiert und kann daher nicht mit etablierten biometrischen Identifikationsverfahren wie Fingerabdruck oder DNA gleichgesetzt werden. Ob seine Gutachten im jeweiligen Verfahren berücksichtigt wird, liege im Ermessen des Gerichts, sagt der Forensiker.

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Angeordnet werden die Maßnahmen in der Regel auf Grundlage von Paragraf 81b der Strafprozessordnung, der erkennungsdienstliche Maßnahmen bei Beschuldigten erlaubt. Dazu zählt auch die Anfertigung von Fotografien – Videos, die für die Erstellung der 3D-Modelle besser geeignet wären, sind aber nicht erlaubt.

Mit Labuddes Methoden dürfte in der deutschen Justiz auch jenseits der umstrittenen Körperscans zu rechnen sein. Sein Team forscht für Gerichtsverfahren an einer 3D-Tatortrekonstruktion mithilfe von Virtual Reality (VR). Dazu hat der Thüringer Professor eine Kooperation mit der Firma Nusec XR aus Beverungen in Nordrhein-Westfalen begonnen. Aus Fotos, Drohnenaufnahmen und Laserscans entstehen digitale Räume, in denen sich Ermittler*innen, Sachverständige oder sogar Richter*innen in einer VR-Simulation frei bewegen können.

Angeblich haben Nusec und Labudde bereits einen erstes Prototypen auf einem internationalen Kongress von Rechtsmedizinern vorgestellt. Die Entwicklung werde in spätestens sechs Monaten erstmals in einem Gerichtssaal vorgeführt, erklärt der Professor.

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