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Gaza-Krieg: Essen mit dem Fallschirm
Hilfsorganisationen kritisieren die Versorgung der Menschen in Gaza aus der Luft
Die Zeit drängt. Für Ärzte ohne Grenzen sind in Gaza über 1000 Helfer im Einsatz, die vor allem um das Leben der mangelernährten Kinder und Babys kämpfen. Immer wieder kommt es zu Frühgeburten. Da die hungernden Mütter ihre Neugeborenen nicht stillen können und es kaum Milchpulver gibt, ist jede Frühgeburt quasi ein Todesurteil. Mitarbeiter der Welthungerhilfe in Gaza schätzen die Zahl der akut hungernden Palästinenser auf eine halbe Million. Und viele berichten dem »nd«, wie sehr sie selbst geschwächt sind: »Wir essen nur jeden zweiten Tag. In der Hitze und der Gefahr brechen immer wieder Kollegen vor Erschöpfung zusammen.«
Nach scharfer Kritik an der Lage der Zivilbevölkerung lässt die israelische Regierung seit dem vergangenen Wochenende wieder mehr Lebensmittel in den Gazastreifen. Am Samstag wurden sieben an Fallschirmen befestigte Paletten von Transportflugzeugen der israelischen Luftwaffe über dem südlichen Gazastreifen abgeworfen, ohne Vorwarnung für die Flüchtlinge. Mindestens sieben Palästinenser wurden schwer verletzt, als eine der Ladungen auf einem Zelt niederging.
Humanitäre Hilfe aus der Luft
Auch Militärmaschinen aus Jordanien und den Vereinigten Arabischen Emiraten nahmen die Versorgung aus der Luft wieder auf. Die Bundeswehr hat zwei Transportflugzeuge nach Jordanien entsandt, die die notleidende Bevölkerung im Gazastreifen mit Hilfsgütern versorgen sollen. Die beiden Maschinen vom Typ A400M seien auf dem Weg, sagte Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) in einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem jordanischen König Abdullah II. »Diese Arbeit mag humanitär nur einen kleinen Beitrag leisten. Aber sie ist ein wichtiges Signal: Wir sind da, wir sind in der Region, wir helfen«, so Merz.
In einer Erklärung bezeichneten mehr als 100 internationale Nichtregierungsorganisationen die Aktion mit den Abwürfen von Hilfsgüterpaletten als groteske Ablenkung von dem tatsächlichen Ausmaß der Hungerkrise. Laut der palästinensischen Gesundheitsbehörde waren in der vergangenen Woche mehr als 55 Menschen verhungert. Seit die israelische Regierung die Versorgung des Gazastreifens über die Gaza Humanitarian Foundation (GHF) abwickelt, überlebten demnach 1200 vor allem alte und chronisch kranke Patienten die im gesamten Gazastreifen grassierende Unterernährung nicht.
»Ich wurde Zeuge von Kriegsverbrechen an hungernden Menschen.«
Anthony Aguilar Ehemaliger Angestellter der Gaza Humanitarian Foundation
Ciaran Donnelly vom Internationalen Rescue Committee (ICR) betonte am Samstag, nur per Lastwagen gelieferte Lebensmittel könnten die Lage verbessern. Zuvor hatten Hilfsorganisationen Kritik an der israelischen Regierung nur selten öffentlich geäußert, um ihren Zugang in den Gazastreifen nicht zu gefährden. Aber seit bei den Lebensmittelverteilungen mehr als 1000 Menschen erschossen wurden, platzt vielen der Kragen. »Ich wurde mehrmals Zeuge, als Granaten in die wartende Menge von Hungernden gefeuert wurde, um diese zu zerstreuen«, so ein ehemaliger GHF-Angestellter gegenüber der BBC. Der ehemalige Offizier der US-Armee Anthony Aguilar kündigte schließlich seine Arbeit bei der GHF: »Ich wurde Zeuge von Kriegsverbrechen an hungernden Menschen.«
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) fordert schon lange die Schließung der vier GHF-Verteilzentren, mit denen die israelische Regierung 400 von den Vereinten Nationen betriebene Büros ersetzen wollte. Die GHF ist jedoch nur im Süden des Gazastreifens aktiv, meist weit weg von den großen Flüchtlingslagern. Seit Montag soll nun die WHO die von ihr als »tödlich« bezeichnete Hungersnot innerhalb von drei Monaten beenden. Lastwagen pendeln bereits zwischen den gut gefüllten Lebensmittellagern der Uno, der Welthungerhilfe und anderer Organisationen in Jordanien und Ägypten sowie dem Gazastreifen.
Apokalyptische Szenen bei der Verteilung
Während der von der israelischen Armee einseitig verkündeten zehnstündigen Kampfpausen sollen über neue Routen seit Monaten isolierte Gebiete versorgt werden, täglich zwischen 10 und 20 Uhr.
Die ersten über den Grenzübergang bei Rafah kommenden Lieferungen wurden von Tausenden Verzweifelten schon während der Fahrt gestürmt. Die apokalyptisch anmutenden Szenen haben unter Benjamin Netanjahus Koalitionspartnern zu wütenden Reaktionen geführt. Sicherheitsminister Itamar Ben Gvir bezeichnete den mit den Vereinten Nationen geschlossenen Kompromiss als unmoralisch. »Statt wieder zu liefern, sollten wir sämtliche Hilfen einstellen, den Gazastreifen erobern und die Bevölkerung hinaustreiben«, so Ben Gvir. »Nur Granaten sollten dorthin geschickt werden.«
Keine Belege für systematischen Missbrauch bei Hamas
Kritiker von Premier Netanjahu wie der ehemalige Premierminister Ehud Olmert bezeichnen die Hungerkrise daher als Teil eines klar definierten Regierungsplans. »Verteidigungsminister Katz will die gesamte Bevölkerung der Enklave in die in Trümmern liegenden Stadt Rafah dirigieren und durch die schlechte Versorgungslage zur Ausreise bewegen. Das ist ethnische Säuberung«, so Olmert gegenüber »The Guardian« aus London.
Die kommenden Tage werden zeigen, ob weitere Hungertote verhindert werden können. Doch schon jetzt scheint klar, dass die israelische Regierung mit ihrem Narrativ gescheitert ist, die Vereinten Nationen für die Krise verantwortlich zu machen. Mit dem Argument, die Hamas würde systematisch Lebensmittel stehlen, war die Arbeit der UN-Organisationen blockiert worden. Nun gaben israelische Offiziere gegenüber der »New York Times« zu, für diesen Vorwurf keinerlei Beweise zu haben.
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