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Wie die radikale Rechte frühere Bergbauregionen erobert
Die britische Rechtspartei Reform UK wird im nordenglischen County Durham immer stärker
»Es geht schon lange abwärts«, sagt Thomas McManners, 67, halbpensionierter Elektroingenieur, Träger einer Goldkette und eines Kurzhaarschnitts. Er ist auf dem Weg in sein Stammcafé in der Siedlung Easington Colliery in der nordenglischen Grafschaft Durham. Die jungen Leute hier nehmen Drogen, die älteren trinken, und wer könne, ziehe anderswohin, sagt er. Seit Jahrzehnten werde nichts investiert, »die Regierung schert sich nicht um uns.« Und dann seien da noch die Migranten, die die Behörden ins Land hereinlassen. »Das muss aufhören«, sagt McManners. Einst war er ein Labour-Anhänger, aber das ist lange her. In den Gemeinderatswahlen vor einem Monat habe er Reform UK gewählt, sagt er mit Bestimmtheit. »Es ist Zeit für einen Wandel«.
Er hat es gemacht wie die meisten hier. Im Wahlkreis Easington gingen alle drei Sitze an Reform UK. Auch im Rest von County Durham triumphierte Nigel Farages Rechtsaußen-Partei, sie gewann eine Mehrheit im Gemeinderat. Es ist eine von zehn Kommunen in England, die Reform UK nunmehr kontrolliert. Die Wahlen Anfang Mai haben bestätigt, was seit vielen Monaten offensichtlich ist: Reform UK, derzeit in Umfragen mit rund 30 Prozent stärkste Partei, hat sich als prägende Kraft etabliert.
Reform UK kontrolliert bereits zehn Kommunen
Easington Colliery, knapp 5000 Einwohner, war mal ein pit village, ein Bergbaudorf. Jahrzehntelang arbeiteten die meisten Männer hier in der Zeche, 400 Meter unter dem Meeresboden bauten sie Kohle ab – harte, gefährliche Arbeit, aber ordentlich entlohnt. Nachdem die Grube 1993 geschlossen wurde, setzte schnell die Verwahrlosung ein. Heute zählt die Gemeinde zu den ärmsten zehn Prozent in England, die Kinderarmut hat Rekordwerte erreicht. Ebenso verbreitet sind Übergewicht, Alkoholismus und Drogenabhängigkeit.
Das Straßenbild ist typisch für ein englisches Bergbaudorf. Schmale, identische Häuschen reihen sich aneinander, in den Vorgärten hängt die Wäsche. Der Film Billy Elliot (2000) über den Bergarbeiterstreik und einen Jungen, der Balletttänzer werden will, wurde hier gedreht. Aber wenn man an diesem sonnigen Vormittag Ende Mai durch die Straßen von Easington Colliery geht, ist von der positiven Stimmung jenes Films nichts zu spüren. Viele Häuser sind verbarrikadiert, ebenso etliche Geschäfte an der Hauptstraße. Ein Auto ohne Reifen steht neben einer umgekippten Mülltonne. Drei junge Männer im Trainingsanzug schauen den Besucher misstrauisch und wortlos an.
Einstige Labour-Hochburg in Perspektivlosigkeit versunken
Dass die radikale Rechte hier Auftrieb hat, ist einerseits nachvollziehbar. Es ist eine Geschichte, die man auch in vielen anderen früheren Industriegebieten erzählen kann: Demagogen schlagen Kapital aus der verbreiteten Perspektivlosigkeit, schieben die Probleme den Migranten in die Schuhe und versprechen, die Einheimischen an die erste Stelle zu setzen.
Aber eine entscheidende Rolle in dieser Geschichte nimmt die ehemals dominante Kraft in County Durham ein. Früher, so geht der Witz, hätte man hier einer Sau die rote Labour-Rosette anheften können, und sie wäre mit großer Mehrheit ins Parlament gewählt worden.
Wenn Heather Wood früher durch die Straßen von Easington Colliery ging, sagten die Leute: »Ah, hier kommt die Labour-Partei!« 50 Jahre war sie aktives Parteimitglied, acht Jahre saß sie im Gemeinderat. Bereits als Kind sei sie zur Sozialistin geworden, erzählt Wood. Ihr Vater – Bergmann, natürlich – habe ihr gesagt, »was richtig und was falsch ist«. Das einschneidende Ereignis in ihrem Leben kam 1984. Um die von Premierministerin Margaret Thatcher geplante Schließung von 20 Zechen zu verhindern, traten die Bergarbeiter in den Streik. Der einjährige Miner’s Strike war die wichtigste Konfrontation zwischen Regierung und Lohnabhängigen in der britischen Nachkriegszeit. Er endete mit einer Niederlage für die Kumpel, aber dieses eine Jahr stärkte den Zusammenhalt der Gemeinschaft umso mehr.
Streik hatte die Kumpel eint geeint
Wood engagierte sich in der Gruppe Women Against Pit Closures. Es sei eine Lebensader gewesen für die Streikenden, sagt sie: Die Frauen sorgten nicht nur dafür, dass die Männer zu essen hatten. Sie stellten sich mit ihnen an die Streikposten, trieben Spendengelder auf, boten moralische Unterstützung und Beratung. Ohne die Frauen hätten die Kumpel wohl nicht lange durchgehalten, ist Wood überzeugt. Heute ist sie 73, geht am Stock und hört nicht mehr so gut. Aber wenn sie spricht, ist sie noch immer so feurig wie in jüngeren Jahren. Im Gespräch kommen ihr manchmal die Tränen, etwa, wenn sie von der Solidarität während des Streiks spricht. Dann wieder ballt sie ihre Faust, zum Beispiel, als sie auf Margaret Thatcher zu sprechen kommt. Oder auf Keir Starmer, den aktuellen Premierminister.
Nach der Niederlage der Bergarbeiter und der Schließung der Grube knapp zehn Jahre später hielten die Wähler in Durham County lange Zeit an Labour fest, wenn auch mit abnehmendem Enthusiasmus. Noch in den Lokalwahlen von 2017 gewann die Partei eine ansehnliche Mehrheit im Gemeinderat, in Easington war das Votum für die Sozialdemokraten überwältigend. Aber zu jener Zeit stellte Wood fest, dass die Partei zunehmend »verblasste«.
»Früher waren Labour-Aktivisten immer präsent in der Öffentlichkeit. Manchmal luden sie zu einem Pie-und-Erbsen-Abendessen, oder sie organisierten einen Bingoabend für Rentner. Sie halfen im Jugendclub aus oder im Gemeindezentrum.« Wenn man Rat brauchte, dann fand man ihn in einem dieser Orte. Aber das habe sich geändert, so Wood: »Die Labour-Partei ist im Untergrund verschwunden.«
Rechte besetzen Leerstelle von Labour
Und diese Leerstelle habe die Rechte für sich genutzt. »Langsam ist sie in die Gesellschaft gekrochen und hat sie infiltriert«, sagt Wood. Besonders aktiv seien Kreise ehemaliger Armeeangehöriger geworden. Sie hätten sich auf ihren Patriotismus berufen und Leute rekrutiert. Vor einigen Jahren ging Nigel Farage in East Durham auf Tour, erzählt Wood. »Er klapperte einen Pub nach dem anderen ab, kaufte den Leuten ein Pint und schäkerte mit ihnen. ›Der scheint ganz ok zu sein‹, sagten die Leute.« Wenn man am Boden sei und nichts habe, dann versuche man, sich an allem festzuhalten, sagt Wood. »Farage versprach das Blaue vom Himmel.« Jobs für alle, und ein Ende der Einwanderung.
Dass gerade die Migration die Gemüter so erhitzt, ist überraschend. In Easington Colliery trifft man wenige Migranten, in ganz County Durham sind annähernd 97 Prozent der Einwohner weiß. Auf Nachfrage, was denn das genaue Problem bei der Einwanderung sei, sagt Elektriker Thomas McManners: »Na ja, hier spezifisch ist sie kein Problem.«
Laut Heather Wood gibt es mehr ehemalige Bergarbeiter, die heute in Spanien leben als Migranten in County Durham. Aber Farage und Reform UK hätten die Leute »in Angst und Schrecken versetzt« wegen der Migranten. Mit tatkräftiger Unterstützung der konservativen Medien ist Einwanderung seit einigen Jahren wieder zu einem heißen Thema geworden. Zudem fehlten den Kommunen die finanziellen Mittel, um den wenigen Asylbewerbern, die hierher geschickt werden – oft von südenglischen Gemeinden, die billige Wohnungen suchen – angemessene Unterstützung zu bieten, meint Wood.
Starmers Rechtskurs vergrault Labour-Wähler
Die Parlamentswahl im Juli 2024 sei die letzte Chance gewesen, den Vormarsch der Rechten aufzuhalten. Wood war zu dem Zeitpunkt schon nicht mehr Parteimitglied. Vor etwa drei Jahren sei sie zum Grab ihrer Eltern gegangen, um ihnen zu beichten, dass sie aus der Labour-Partei austreten werde. »Es war eine der schwierigsten Entscheidungen, die ich je getroffen habe«, sagt sie. Aber ihre Erschütterung über den Rechtskurs unter Starmer ging zu tief.
Dennoch hoffte sie auf eine Wende mit Labour. Nach 14 Tory-Jahren hatte Starmer die Möglichkeit, den abgewirtschafteten Regionen unter die Arme zu greifen. Der Labour-Kandidat in Easington gewann mit 49 Prozent der Stimmen, wenn ihm auch die Reform-Partei mit knapp 30 Prozent auf den Fersen war.
Die Ernüchterung über die neue Labour-Regierung setzte umgehend ein. »Was ist das Erste, was Starmer macht?« fragt Wood. »Er kürzt die Heizzuschüsse für Rentner und hält an der von den Tories eingeführten Kürzung der Sozialleistungen für Familien mit mehr als zwei Kindern fest.« Diese Kürzungen beim Sozialbudget werden in so gut wie jedem Gespräch mit den Bewohnern von Easington Colliery angesprochen. Laut Meinungsforschern waren sie ein wichtiger Grund dafür, das Reform UK bei den englischen Lokalwahlen so gut abgeschnitten hat.
Reform UK gibt sich wirtschaftlich progressiven Anstrich
Diese Tatsache ist auch Nigel Farage nicht entgegangen. In den vergangenen Wochen hat er versucht, sich als wirtschaftlich progressiv zu verkaufen. Er sprach sich für eine Verstaatlichung des notleidenden Stahlkonzerns British Steel und für eine »gute Partnerschaft mit den Gewerkschaften« aus. Vergangene Woche versprach er, die von Labour eingeführten Sozialkürzungen rückgängig zu machen. Für Heather Wood ist das freilich »leeres Geschwätz«. Immerhin ist Farage für seine wirtschaftslibertäre Haltung bekannt. So würde er den staatlichen Gesundheitsdienst NHS am liebsten privatisieren. Aber als taktischer Winkelzug sind seine jüngsten Aussagen durchaus geschickt.
Nach den Wahlen vom Juli 2024 sprachen viele Experten von einem »Kartenhaussieg«. Wenn Labour nicht den versprochenen Wandel herbeiführe, werde die Unterstützung in sich zusammenfallen, während die radikale Rechte erneut profitieren werde. Genau das passiert jetzt. Die Umfragewerte Labours sind seit dem Regierungsantritt von Starmer im freien Fall. Noch nie hat eine neue Regierung in ihren ersten zehn Monaten so schnell an Unterstützung verloren. Mit einiger Verspätung hat Labour erkannt, was für einen Schaden sie mit den Sozialkürzungen angerichtet hat. Darum hat sie kürzlich eine teilweise Kehrtwende eingeleitet. Aber es könnte bereits zu spät sein.
Heather Wood gibt jedoch nicht auf. Im März, zum Ende der Gedenkfeiern zum 40. Jahrestag des Bergarbeiterstreiks, gründeten sie und ihre Kolleginnen eine Nachfolgeorganisation von Women Against Pit Closures und nannten sie National Women’s Action for Positive Change. Sie werden da anfangen, wo sie sich auskennen: an der Basis. »Wir werden Frauen zum Kaffee einladen, Workshops organisieren, und so weiter«, sagt sie. »Wir werden mit den Leuten reden und sie von einem Votum für Reform UK abbringen.« Es werde Zeit brauchen, aber anders gehe es nicht. Langsam wollen Wood und Mitstreiterinnen so den öffentlichen Raum von der Rechten zurückerobern: »Wir haben große Pläne.«
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