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Familienzentren in Berlin: Gekapptes Modellprojekt
Familienzentren vor einschneidenden Kürzungen
Nach den Silvesterkrawallen 2022/2023 ging ein Ruck durch die Berliner Landespolitik: Es müsse mehr für die Jugendarbeit getan werden, um derartige Ausschreitungen zu unterlaufen, hieß es von Senatsseite. Teil des damals beschlossenen Maßnahmenpakets war auch das Modellprojekt Familienzentren. Insgesamt 16 davon sollten in Grundschulen Eltern niedrigschwellige Informations-, Beratungs- und Unterstützungsangebote machen. »Die Ausschreitungen in der Silvesternacht 2022/2023 haben die Notwendigkeit einer intensivierten Zusammenarbeit auf allen Ebenen – zwischen Senat, Bezirken, Jugendeinrichtungen und Sicherheitsbehörden – deutlich gemacht, um präventive Maßnahmen gegen Jugendgewalt in Berlin zu stärken«, heißt es auf der Website des Senats zu dem Projekt.
Doch jetzt stehen die Familienzentren vor tief eingreifenden Kürzungen. »Ende 2024 wurde unsere Grundfinanzierung von 120 000 Euro auf 88 750 Euro reduziert«, sagt Benjamin Adler gegenüber »nd«. Er ist Abteilungsleiter für schulbezogene Sozialarbeit beim freien Träger Tandem BTL, der in Kooperation mit der Hermann-Boddin-Grundschule in Neukölln das dortige Familienzentrum betreibt. Ironisch: Im Frühjahr wurde das Familienzentrum noch für die feierliche Übergabe des Berliner Familienberichts an Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch (CDU) genutzt.
»Statt Eltern erst hinzuzuziehen, wenn es bereits Schwierigkeiten gibt und Lehrer sich Sorgen machen, bietet das Familienzentrum niedrigschwellige Angebote für Eltern«, erklärt Adler. Dazu gehörten etwa Beratungsangebote zum Thema Handynutzung, gewaltfreie Erziehung, Umgang mit Trennung und Kindergesundheit. »Ziel ist es, dass die Eltern im Fokus stehen und Teil der Schulgemeinschaft werden«, so Adler. Der Erfolg der Zentren in Grundschulen liege auch daran, dass Eltern sie an einem Ort nutzen könnten, den sie regelmäßig aufsuchen. »Es braucht Zeit, um ein verlässliches Angebot aufzubauen und damit es sich rumspricht.« Die Kürzungen seien daher ein »Schlag ins Gesicht derjenigen, die gute Schulentwicklung hin zu einem Lern- und Lebensort für Kinder-, Eltern und Kolleg*innen gemacht haben«, so Adler.
Für 2025 wurde das Budget für alle Familienzentren an Grundschulen um 500 000 Euro und damit um ein Viertel der Fördersumme gekürzt. An der Hermann-Boddin-Grundschule mussten die Arbeitsstunden der eigens für das Modellprojekt angestellten Fachkraft von 39,5 auf 33 Stunden reduziert werden. Eine zweite Sozialarbeiterin musste ihre Arbeitszeit von 15 Stunden auf 4,5 Stunden reduzieren.
Doch die Sozialarbeit in freier Trägerschaft hat mit weiteren Einschnitten zu kämpfen. Denn zusätzliche Personalkosten durch Tariferhöhungen oder Aufstieg in höhere Erfahrungsstufen wurden in der Vergangenheit an die freien Träger weitergegeben. Dies sei 2025 nicht mehr auskömmlich der Fall und habe so tarifliche Ungleichbehandlung und Arbeitsplatzunsicherheit zur Folge, so Adler. Zwar hätten Träger und Dachverbände wie AWO und der Paritätische Wohlfahrtsverband dies problematisiert, doch könne nach aktuellem Stand nun auch jeder reguläre Aufstieg eine*r Mitarbieter*in in der Erfahrungsstufe Angebotskürzungen zur Folge haben.
Der Beirat für Familienfragen kritisierte im Berliner Familienbericht die Kürzung der Modellprojekte scharf. »Die bisher landesgesetzlichen Vorgaben genügten nicht, um die Gewährungspflicht und die damit verbundenen Planungs- und Finanzierungsverantwortung angemessen wahrzunehmen«, heißt es dort. »Bereits innerhalb weniger Monaten hatten es die Fachkräfte an Schulen geschafft, Eltern zu aktivieren, die als schwer zu erreichen und bildungsfern galten.« Um die »versprochenen Qualität zu erreichen, bedarf es einer deutlichen Aufstockung der finanziellen Mittel«, ist dem Bericht zu entnehmen. »Es darf keine Kürzungen bei Angeboten der Familienförderung geben – weder der Väterarbeit, den Familienzentren an Grundschulen, den Stadtteilmüttern – oder Angeboten der Familienbildung«.
»Das Einzige, was wir mit Sicherheit wissen, ist, dass weiter gekürzt wird.«
Benjamin Adler Tandem BTL
Wie die Förderung für das nächste Haushaltsjahr aussieht, ist noch ungewiss »Für 2026 haben wir wenige vage Aussagen vom Berliner Senat erhalten. Das einzige, was wir mit Sicherheit wissen, ist, dass weiter gekürzt wird«, so Adler. Er kritisiert die Kommunikation des Senats. »Es finden keine Gespräche über die Konsequenzen statt. Wir erleben da wenig Transparenz und keine fachliche Diskussion«, fordert Adler. Wenn die Familienzentren verschwinden würden, müssten die Kinder darunter leiden. »Für Kinder ist es belastend, wenn sie Situationen haben, wo ihre Eltern sie nicht unterstützen können. Unsere Arbeit hat zur Folge, dass Eltern handlungsfähiger werden und sich verlässlicher um sie kümmern können.«
Um gegen die Kürzungen zu warnen, initiierte der Träger des Familienzentrums an der Boddin-Grundschule die Aktion »Briefe an Kai«. In mehr als 3000 persönlichen Schreiben berichteten Kinder, Jugendliche und Betroffene, warum soziale Angebote unverzichtbar seien. Diese sollten in der vergangenen Woche dem Regierenden Bürgermeister Kai Wegner (CDU) vor dem Roten Rathaus übergeben werden. Sowohl Wegner als auch Senatsvertreter waren allerdings nicht da, um die Briefe persönlich entgegenzunehmen.
Die Bildungssenatsverwaltung antwortete bis Redaktionsschluss nicht auf eine nd-Anfrage.
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