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Queere Stimmen verstummen
Kürzungen bei Theatern bedrohen LGBTIQ-Künstler
Auf einer Bühne voller Plüsch und Kuscheltiere sitzen zwei Performer*innen einander gegenüber. Sie betasten ihre nackten, flachen Oberkörper, die unterhalb der Brustwarzen von langen dünnen Narben geziert werden. In dem Stück des queerfeministischen Performance-Kollektivs CHICKS* geht es um die Mastektomie der beiden Darsteller*innen, also um die Entfernung ihrer Brüste. Auf persönliche Weise klärt die Ko-Produktion mit den Berliner Sophiensælen über Brustkrebsvorsorge und queere Körper auf.
Die LGBTIQ*-Kunstszene ist im Spielplan der Sophiensæle, einem freien Theaterhaus in Mitte, fest verankert. »Wir wollen einen Raum und Sichtbarkeit für queere Perspektiven schaffen«, sagt Jens Hillje, Dramaturg und künstlerischer Leiter des Hauses, im Gespräch mit »nd«. Doch das werde immer schwieriger, denn die Sophiensæle seien unterfinanziert und das Land Berlin hat seinen Kulturetat in diesem Jahr um 130 Millionen Euro gekürzt. 2026 sollen es weitere 15 Millionen Euro sein.
Seit Herbst gibt es Proteste gegen die Sparpläne, weshalb kleine Spielstätten wie die Sophiensæle vorerst ausgenommen sind. Doch für das kommende Jahr – in dem das Haus 30 Jahre alt wird – drohen Kürzungen zwischen fünf und 20 Prozent. »Wenn es 20 Prozent werden, ist das existenzbedrohend. Dann sind wir künstlerisch handlungsunfähig«, sagt Hillje. Doch genau werde man es wohl erst Ende 2025 wissen, was jede Planung erschwert. Das betrifft auch die rund 70 freien Künstler*innen, die über das Jahr verteilt an den Sophiensælen arbeiten. Erst kürzlich habe man eine nicht geförderte Performance der Dragqueen Olympia Bukkakis durch eigene Mittel ermöglicht.
Freie Kulturschaffende und Produktionsstätten stehen in einem gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnis, wie Heinrich Horwitz, nonbinäre*r Regisseur*in, Choreograf*in und Schauspieler*in, erklärt. Für jedes einzelne Projekt beantragen freischaffende Künstler*innen wie Horwitz gemeinsam mit einem Haus wie den Sophiensælen sowohl die Finanzierung der jeweiligen Produktion als auch die Miete der Spielstätte. Nach Kürzungen bei der Kulturstiftung des Bundes und beim Bundeskulturfonds hat nun auch der Berliner Senat die Förderung der freien Künstler*innen um 538 000 Euro reduziert.
Daher gibt es in den Sophiensælen diese Saison etwa 50 Vorstellungen weniger als früher. Und Horwitz verlor in den vergangenen Monaten vier Projekte. Für zwei wurde kein Geld genehmigt, ein Stadttheater zog einen Auftrag zurück und die Berliner Schaubühne setzte das Stück »In Memory of Doris Bither« ab, in dem Horwitz schauspielerte, weil das »Studio« der Schaubühne wegen drohender Insolvenz geschlossen wurde.
»Als erstes werden solche Orte für experimentelle Formate abgeschafft, die weniger etabliert sind als die großen Bühnen«, schlussfolgert Horwitz. Gerade die seien oft Vorreiter hinsichtlich der Sichtbarkeit marginalisierter Positionen. »Queere Projekte, die ja auch Schutzräume bieten, fangen gerade erst an zu leben«, sagt Horwitz. Das betrifft nicht nur Horwitz’ eigene Existenz: »Pro Produktion engagiere ich im Schnitt zehn FLINTA*-Personen, die zum Teil queer, BIPoC oder behindert sind.« Zwei würden sich bereits beruflich umorientieren.
»Wenn es 20 Prozent werden, ist das existenzbedrohend.«
Jens Hillje Sophiensæle
So verschwänden marginalisierte Stimmen aus der Kulturlandschaft – und Berlin verliere seine bunte, vielfältige Szene. Es drohe eine »Zerstörung des kulturellen Erbes der Stadt«, sagt Sophiensæle-Dramaturg Jens Hillje. Künstler*innen und Orte, die einmal von der Bildfläche verschwänden, kämen nie wieder. Dieses Kaputtsparen hält er für »ökonomisch selbstmörderisch«. Laut dem Reiseportal »visitBerlin« besuchen 61 Prozent der Tourist*innen die Hauptstadt aufgrund ihres Kulturangebotes.
Die Senatskulturverwaltung habe versucht, der Kulturlandschaft in ihrer Breite möglichst wenig zu schaden, teilt Sprecher Daniel Bartsch auf nd-Anfrage mit. So seien Kinder- und Jugendtheater von den Sparmaßnahmen ausgenommen. »Im Prinzip jedoch haben alle Bereiche ihren Anteil erbringen müssen«, so Bartsch. Und das für die kommenden beiden Jahre verbliebene Budget hält er für »immer noch sehr hoch«.
Laut dem – nach massiven Protesten inzwischen zurückgetretenen – Ex-Kultursenator Joe Chialo (CDU) sollten sich kulturelle Einrichtungen zukünftig mehr durch Drittmittel und Partnerschaften mit Unternehmen finanzieren. Horwitz nennt das »eine Kapitalisierung von Kultur«, die nur den Mainstream erhalte, der hetero, cis, weiß und ohne Behinderung sei. »Davor habe ich große Angst«, sagt Horwitz. Das »Verstummen« von Kultur abseits des Mainstreams reihe sich ein in den politischen Rechtsruck und bedrohe die Demokratie.
Horwitz kritisiert, dass die prekäre Lebensrealität freier Künstler*innen im Senat kaum bekannt sei und sich niemand für sie einsetze. Umso wichtiger sei es, gemeinsam zu protestieren und Druck auf die Politik auszuüben, wie es mit den Bündnissen »BerlinIstKultur«, »Unkürzbar« und »Ratschlag der Vielen« bereits geschehen sei. Hillje sieht das genauso: »Hätten wir uns nicht gewehrt, wären wir stärker gekürzt worden.« Auch dass freie Szene und Stadttheater inzwischen »kollegial miteinander kämpfen«, wertet er als Erfolg. Als Dramaturg sei er ohnehin Berufsoptimist: »Man muss daran glauben, dass am Ende alles gut wird.«
Dieser Text erschien erstmals in »Queere Bühne«.
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