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Für die Region Sumy wird es ernst
Russlands Armee rückt weiter im Norden und Osten der Ukraine vor
Russland rückt in der Ukraine weiter vor, soll im Mai so viel ukrainisches Gebiet erobert haben, wie zuletzt Ende 2022. Wie verschiedene Medien berichten, haben russische Soldaten in den vergangenen Tagen mehrere Orte in der Ostukraine eingenommen und dabei auch die Grenze zum Gebiet Dnipropetrowsk überschritten. Ziel der Offensive, schreibt unter anderem die »New York Times« könnte die Schaffung einer Pufferzone von etwa zehn Kilometern sein, um dann einen neuen Angriff auf Pokrowsk zu starten.
Auch in der Region Sumy wird die Situation immer angespannter. Die Gebietshauptstadt, die vor dem Krieg knapp 250 000 Einwohner hatte, könnte bei einem weiteren Vordringen russischer Soldaten in die »graue Zone« geraten, also in einen Bereich, den weder Ukrainer noch Russen kontrollieren. Für die Menschen bedeutet das, dass es eine Evakuierung erschweren würde.
Ukrainischen Medien zufolge stellen sich viele Einwohner Sumys bereits die Frage: Bleiben oder evakuieren? Auf den Straßen soll immer häufiger das Wort »Umzingelung« fallen und die Menschen sollen von einer möglichen Isolierung der Region sprechen.
Verdeckte Evakuierung Sumys soll bereits laufen
Offiziell hüllt sich die Regierung in Kiew in Schweigen zur Situation in Sumy. Am Donnerstag verkündete Präsident Wolodymyr Selenskyj in seiner Videoansprache, man habe die Russen »ein wenig« zurückgedrängt, sprach am Wochenende sogar von Erfolgen. Alle verfügbaren Daten beweisen jedoch, dass Selenskyj nicht die Wahrheit sagt.
Auch wenn es keinen offiziellen Befehl gibt, scheint die verdeckte Evakuierung von Sumy bereits angelaufen zu sein. Große Handelsketten, Cafés und Läden verlassen massenhaft die Stadt und machen ihre Räumlichkeiten frei. Mitarbeiter von Geheimdienst und Polizei erstellen Listen für die Ausfuhr von Familien und im Straflager 116 wird die Evakuierung der Häftlinge vorbereitet. Züge sind bestellt, der Prozess soll innerhalb von zehn Tagen abgeschlossen sein. Auch Archive und andere Unterlagen werden aus der Stadt geschaffen, schreibt Jurij Butusow, Chefredakteur des Online-Mediums Zensor.net.
Bis zuletzt galt die Region Sumy als ruhig, der Krieg zog eigentlich an ihr vorbei. Selbst zu Beginn der Invasion 2022 fanden hier keine Kriegshandlungen statt. Auf ihrem Weg nach Kiew zog Russlands Armee damals einfach vorbei.
Kritik an Selenskyj
Der letztlich gescheiterte Einmarsch in die Regionen Kursk und Belgorod habe die Situation für Sumy aber fundamental geändert und der russischen Armee eine Carte blanche für ihren Einmarsch im Nordosten der Ukraine gegeben, so ukrainische Analysten. Die Schuld daran trügen Präsident Selenskyj und Armeechef Olexandr Syrskyj, so der Vorwurf.
Laut einem Bericht der »Ukrajinska Prawda« versucht die ukrainische Armee immer noch, in Kursk und Belgorod anzugreifen. Jedoch ohne Erfolg, weil Menschen und Material fehlen. »Wir treten auf den Rechen«, kommentierte ein Kommandeur die Lage ironisch. Ein weiterer Kommandeur mutmaßte gegenüber der »Ukrajinska Prawda«, die neuerlichen ukrainischen Vorstoßversuche würden einen politischen Charakter tragen. Sie sollen Aktivität vortäuschen und die Reputation der Kommandoführung bewahren, so der Kommandeur.
Ukrainische Verteidigungsanlagen kaum vorhanden
Journalisten und Militärexperten sehen derweil eine Mitschuld der ukrainischen Seite am Vormarsch der Russen. Laut Zensor.net-Chefredakteur Butusow hat Russland bedeutend mehr Drohnen und dazu noch deren Bedienung und Koordination verbessert. Der Hauptgrund aber, warum die Russen gut vorankommen, seien fehlende Verteidigungsanlagen, so Butusow. Nicht zum ersten Mal kommt die Kritik auf, dass Verteidigungsanlagen, die von Unternehmern aus Selenskyjs Umfeld errichtet werden sollten, nicht existieren.
Auch Wladyslaw Selesnjow, Militärexperte und ehemaliger Sprecher des ukrainischen Generalstabs, sieht eine Mischung aus russischer Überlegenheit und ukrainischem Versagen. »Wenn die Befestigungsanlagen durchbrochen werden, kann das entweder von einer schlechten Arbeit der regionalen Militärverwaltung zeugen, oder davon, dass die Ressourcen des Feindes derart überlegen sind, dass er auch durch unsere Verteidigungsanlagen kommt«, schreibt Selesnjow.
Er geht davon aus, dass Moskau in der Region Sumy eine Pufferzone errichten will. Die Stadt selbst soll hingegen nicht angegriffen werden. Die Parlamentsabgeordnete Marjana Besuhla glaubt, dass Sumy nicht das eigentliche Zeil der Russen ist. »Wer es noch nicht mitbekommen hat. Die neue Offensive der Russen im Gebiet Sumy ist keine Offensive auf das Gebietszentrum Sumy. Es ist eine Offensive auf Kiew, die Hauptstadt der Ukraine. Physisch und ideologisch«, schreibt Besuhla auf Telegram. Der ukrainischen Führung wirft sie Versagen vor. Um dieses zu kaschieren, gebe man Sumy auf, so Besuhla.
Verhandlungen in der Sackgasse
Die Verhandlungen über einen Waffenstillstand und ein mögliches Ende des Krieges sind derweil weiter in der Sackgasse: Zuletzt hatte Moskau verkündet, die dritte Verhandlungsrunde in der russischen Hauptstadt abhalten zu wollen – mit den USA. Am Freitag sagte der ukrainische Außenminister Andrij Sybiha, Kiew sei weiter an Gesprächen interessiert, forderte aber eine reelle Waffenstillstandsperspektive.
Am Sonntag übergab Russland die Leichen von 1200 weiteren Gefallenen an die Ukraine, insgesamt sind es damit 4812. Die Ukraine übergab 27 Gefallene an Russland. Bei den letzten Gesprächen in Istanbul wurde der Austausch von 6000 Gefallenen vereinbart. Die Übergabe verzögerte sich anschließend, weil Kiew sich zunächst weigerte, die Leichen entgegenzunehmen und behauptete, darunter seien viele Russen. Erst als Moskau Listen mit Namen und Sterbedatum sowie -ort veröffentlichte, lenkte Kiew ein.
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